"Der erste moderne Papst"
Frage: Herr Kardinal, für viele Deutsche ist Paul VI. der "Pillenpapst", weil er in der Enzyklika "Humanae vitae" die Nutzung von Verhütungsmitteln für unzulässig erklärt hat. Wie haben Sie damals, 1968, den Streit um die Enzyklika erlebt?
Lehmann: Der Streit um die Empfängnisregelung ab 25. Juli 1968 hat die Menschen auch in der Kirche tief gespalten. Die Deutsche Bischofskonferenz hat in der heute noch umstrittenen "Königsteiner Erklärung" vom 30. August 1968 eine behutsame Deutung von "Humanae vitae" versucht. Der unmittelbar darauf folgende Essener Katholikentag, vom 4. bis 8. September 1968 mit dem Thema "Mitten in der Welt", stand ganz im Zeichen des Widerspruchs und der Polarisierung. Die Einberufung der Gemeinsamen Synode in Würzburg - 1971 bis 1975 - wurde im Februar 1969 von den Bischöfen rasch besonders im Blick auf die Aufarbeitung dieser und anderer Themen beschlossen. Das Jahr 1968 war ohnehin eine extrem unruhige Zeit. Denken Sie beispielsweise an den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag, die Krisen in Vietnam und Biafra und die weltweiten Studentenunruhen.
Frage: Ein anderes Thema, das mit dem Namen von Paul VI. verbunden bleibt, ist das moderne Messbuch, also die erneuerte Form der katholischen Liturgie nach dem Konzil. Was war sein Beitrag dazu?
Lehmann: Paul VI. hat die liturgische Reform persönlich vorangetrieben. Das neue Missale von 1969 ist ein gewisser Höhepunkt. Der Papst selbst bestand auf der sofortigen Inkraftsetzung. Dies war im Blick auf die Strategie der Reform wohl angezeigt und klug, hatte aber im Blick auf die vielfältigen "Traditionalisten" eine Verhärtung zur Folge.
Frage: Päpste sind ja oft auch politische Figuren. Was hat Paul VI. in diesem Bereich bewegt?
Lehmann: Papst Paul VI. bereiste als erster Papst nicht nur alle Kontinente, er redete vor der UNO in New York und setzte sich intensiv für Frieden und Entwicklung ein. Er hatte eine wache Sensibilität für die Arbeiterfragen, wie seine Tätigkeit als Erzbischof von Mailand zeigte. Einer seiner theoretischen Lehrmeister dafür ist der berühmte französische Philosoph Jacques Maritain, wie Paul VI. ohnehin sehr stark von der französischen Kultur und Theologie geprägt war.
Frage: Was sind die wichtigsten Lehrschreiben aus dem Pontifikat von Paul VI. und was ist davon heute noch aktuell?
Lehmann: Ich nenne nur die Antrittsenzyklika "Ecclesia Suam" über den Dialog der Kirche mit der Welt und an "Populorum progressio". Das war ein Meilenstein für die Konzeption der Entwicklungshilfe. Und "Humanae vitae" ist als gesamter Text mit seinen vielfältigen Aussagen verkannt. Daneben darf man natürlich die wichtigen Ansprachen in der Konzilsaula nicht vergessen. Zum 80-jährigen Jubiläum der ersten Sozialenzyklika "Rerum novarum" von 1891 erschien 1971 ein wichtiges Apostolisches Schreiben zur Sozialverkündigung "Octogesima adveniens".
Frage: Wie erklären Sie sich, dass dieser Papst im kollektiven Gedächtnis der Katholiken eher in Grautönen erinnert wird?
Lehmann: Zunächst ist Paul VI. in unserer schnelllebigen Zeit schon etwas weit von uns entfernt. Er konnte auch nicht die charismatische Begeisterung für Johannes XXIII. und die suggestive Wirkung von Johannes Paul II. erreichen. Er hat bei aller Diskretion stets sein Zögern und die Qualen wichtiger Entscheidungen, wie zum Beispiel über die Geburtenregelung, auch öffentlich erkennen lassen. Er darf aber nicht nur der "Pillenpapst" bleiben.
Frage: Kann die am Sonntag anstehende Seligsprechung das Bild von Paul VI. verändern?
Lehmann: Die Seligsprechung könnte der Anfang einer Wende sein. Paul VI. ist, wie ein italienischer Autor einmal formulierte, der erste moderne Papst - mit allen Zerrissenheiten: uns viel näher, als wir oft denken. Im Übrigen war Paul VI. auch darin ein religiös tief gegründeter und vorbildlicher Mensch, Priester und Bischof.
Das Interview führte Ludwig Ring-Eifel (KNA)