Das Original hatte 28 Kerzen
Denn vor 175 Jahren kam der 31-jährige Hamburger evangelische Theologe und Pädagoge Johann Hinrich Wichern (1808-1881) auf die Idee, seinen Schützlingen die Vorfreude auf die Geburt Jesu an Weihnachten auf eine sinnlich wahrnehmbare Weise nahe zu bringen: Im sogenannten Rauhen Haus, einem ehemaligen Bauernhaus, betreute der Theologe verwaiste und verwahrloste Kinder und Jugendliche aus Hamburger Elendsvierteln. Die Zeit, in der es immer dunkler und kälter wurde, sollte von den Jugendlichen dennoch als ein Weg des Lichts empfunden werden.
Trost und Hoffnung in dunkler Zeit
Wicherns schlichter Adventskranz bestand aus einem hölzernen Wagenrad, auf dem vier dicke weiße Kerzen für die Sonntage und kleine roten Kerzen dazwischen für die Werktage angebracht waren. Geschmückt war das Rad mit einem breiten weißen Band und mit Tannenzapfen. An jedem Tag, vom ersten Advent bis zum Weihnachtsfest, wurde eine zusätzliche Kerze entzündet. Erst 1860, mehr als zwanzig Jahre später, wurde der hölzerne Kranz mit Tannengrün geschmückt, Zeichen der Hoffnung und des Lebens.
Die Geschichte ist also gut dokumentiert. Doch taucht immer wieder die These auf, der Adventskranz gehe auf germanische Bräuche zurück. Alles Quatsch, schreibt die Bamberger Volkskundlerin Heidrun Alzheimer. Im 19. Jahrhundert hätten Volkskundler im Zuge der deutschen Nationalbewegung fast alle Bräuche auf die Germanen und damit auf das ursprünglich Volkstümliche zurückgeführt.
Auch im Nationalsozialismus hat diese These fruchtbaren Boden gefunden, so Alzheimer. Die Nazis hätten vielfach behauptet, ursprünglich germanische Feste und Symbole seien von der Kirche nur übernommen worden, da sie bereits weit verbreitet gewesen seien. Das ist falsch, wie auch der Kölner Brauchtumsexperte Manfred Becker-Huberti bestätigt. Das ehemals evangelische Symbol hat sich langsam auch zu einem überkonfessionellen gewandelt: 1925 soll in einer katholischen Kirche in Köln erstmals ein Adventskranz gehangen haben.
Überkonfessionell und weit verbreitet
Nur langsam setzte sich der norddeutsche Brauch in ganz Deutschland durch, gefördert auch von der naturbegeisterten Jugend- und Kunsterzieherbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts. Im Ersten Weltkrieg schließlich erlebten viele Soldaten in Lazaretten, wie evangelische Schwestern den Adventskranz aufhängten.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hielt der Adventskranz Einzug in die bürgerlichen Wohnstuben. Dazu musste er kleiner werden: Man verzichtete deshalb auf die Werktags-Kerzen. Heute gehören Adventskränze in fast allen Kirchen und Wohnungen zum vorweihnachtlichen Schmuck. In katholischen Gotteshäusern ist es zum Teil üblich, den Kranz mit drei violetten Kerzen und einer rosa Kerze auszustatten. Das Violett ist die liturgische Farbe des Advent, der früher auch eine Bußzeit war. Die rosa Kerze wird am dritten Adventsonntag, dem Sonntag Gaudete (lateinisch für "Freuet euch") entzündet.
Wohnungsschmuck und religiöses Symbol
Mittlerweile ist der Adventskranz für viele kein religiöses Symbol mehr. Es gibt ihn als Wohnungsschmuck in allen Preisklassen und Materialien, mit echten Kerzen oder LED-Leuchten, aus Metall, Porzellan oder Glas, als Kreis, Spirale oder Riegel. Einer der größten Adventskränze Europas schwebt in den kommenden Wochen über Lüneburg. Er ist aus Aluminium gefertigt und übertrifft mit einem Durchmesser von stolzen 13 Metern den "echten" Kaufbeurener Adventskranz deutlich. Der Clou an dem 1,5 Tonnen schweren Wichernkranz: Mit einer SMS oder per Anruf können seine roten und weißen Lichter weithin sichtbar für einen guten Zweck zum Leuchten gebracht werden. Die Einnahmen gehen in diesem Jahr an Projekte zur Unterstützung von Flüchtlingskindern.
Von Christoph Arens (KNA)