Papst Franziskus und die Homosexuellen: Nichts als nette Worte?
Wenn Papst Franziskus über Homosexuelle spricht, hören nicht nur Gläubige genau hin. Denn seine Äußerungen deuten viele als Seismograf im Blick auf eine mögliche lehramtliche Neubewertung von Homosexualität. Tatsächlich äußert sich Franziskus sehr oft über Homosexuelle – und dies in den meisten Fällen auch in einem wertschätzenden und wohlwollenden Ton. Unvergessen ist der Satz, den er ziemlich zu Beginn seines Pontifikats sagte: "Wer bin ich, ihn zu verurteilen?" Er war damals von einem Journalisten darauf angesprochen worden, wie er einem Homosexuellen begegne, der Gott suche. Vor Kurzem äußerte er sich erneut zu seiner Einstellung zu homosexuellen Menschen und weiteren Personen der LGBT-Community: Demnach werden diese Menschen nicht "von der Kirche", sondern von "Menschen in der Kirche" abgelehnt. Gott sei ein Vater, der "keines seiner Kinder verleugnet".
Manche Beobachter betonen nach derartigen Äußerungen, dass Franziskus damit genau auf der Linie stehe, die auch der Katechismus vertritt. Dieser hält fest, dass homosexuelle Handlungen "in sich ungeordnet" sind. Homosexuellen selbst sei allerdings "mit Achtung, Mitleid und Takt zu begegnen". Auch sie seien berufen, "in ihrem Leben den Willen Gottes zu erfüllen". Sie sollen sich "durch die Tugend der Selbstbeherrschung" sowie "durch das Gebet und die sakramentale Gnade Schritt um Schritt, aber entschieden der christlichen Vollkommenheit annähern". Nachzulesen ist das alles in den Nummern 2357 bis 2359 des Katechismus der katholischen Kirche. Franziskus, dem vor allem die pastorale Fürsorge am Herzen liege, mache mit seinen Aussagen lediglich deutlich, dass auch Homosexuelle Teil der Kirche seien: So lautet dann die Deutung der Kommentatoren.
Haltungsänderung bei Franziskus
Der Mainzer Moraltheologe Stephan Goertz hingegen sieht in den Äußerungen von Papst Franziskus über Homosexuelle eine Haltungsänderung im Vergleich zu dessen Vorgängern. Unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI., die seit den 1980er Jahren gemeinsam die römische Position geprägt haben, hätten "starke negative Gefühle" den kirchlichen Kurs bei diesem Thema bestimmt. "Das Ergebnis war eine verletzende Sprache und diskriminierende Praxis gegenüber Homosexuellen, getränkt von Stereotypen und Abwertungen." So heißt das bis heute umfangreichste vatikanische Dokument über Homosexualität aus dem Jahr 1986 "Das Problem der Homosexualität".
Bei Franziskus hingegen rückt das alles an die Seite. "Er zeigt sich Homosexuellen zugewandt, reagiert auf ihre negativen Erfahrungen mit Empathie und sorgt sich barmherzig um ihre kirchliche Integration", so Goertz. Das gehe einher mit einer deutlichen Zurücknahme der negativen Urteile über Homosexualität. "Franziskus verzichtet darauf, mit Hilfe der Bibel oder dem Naturrecht homosexuelles Verhalten ausdrücklich als schwere Sünde zu bezeichnen". So rezipiere er auch den Katechismus "auffallend selektiv": Er zitiere die Passage, die sich gegen die Diskriminierung Homosexueller wendet, während er die moralische Verurteilung homosexueller Handlungen unterschlage.
Der bekannte italienische Journalist und Vatikan-Experte Marco Politi, der die Geschehnisse im Rom seit Jahrzehnten genau verfolgt, geht in seiner Analyse von Franziskus' Aussagen zur Homosexualität weiter: Dieser habe damit angefangen, "die jahrhundertelange Besessenheit in der Kirche beim Thema Sexualität vom Tisch zu fegen". Er habe die klassische Unterscheidung, wonach nicht der Homosexuelle, aber die homosexuellen Handlungen zu verurteilen seien, übersprungen. "Der Papst sagt: Die Homosexuellen sind genauso Kinder Gottes wie alle anderen. Es ist ein ganz klares Zeichen, dass er Homosexualität nicht verteufelt."
Was Politi in diesem Zusammenhang auch nennt: Franziskus ist für eine zivile Lebenspartnerschaft von Homosexuellen. Das blieb auch nach der medialen Aufregung um seine Zitate zu homosexuellen Partnerschaften in einem Film bestehen, der im Oktober 2020 veröffentlich wurde. Noch 2003 hatte die vatikanische Glaubenskongregation klargestellt: "Nach der Lehre der Kirche kann die Achtung gegenüber homosexuellen Personen in keiner Weise zur Billigung des homosexuellen Verhaltens oder zur rechtlichen Anerkennung der homosexuellen Lebensgemeinschaften führen." Es war die Zeit, in der viele Staaten begannen, Homosexuellen die Möglichkeit einzuräumen, ihre Partnerschaft eintragen zu lassen.
Wiederholung pauschaler Urteile
Doch auch wenn sich Franziskus persönlich wertschätzend äußert und homosexuelle Handlungen nicht offen verurteilt: In offiziellen römischen Dokumenten wird die bislang geltende Lehre fortgeschrieben. Weiterhin würden dort pauschale Urteile und diskriminierende Haltungen wiederholt: "Homosexuelle seien nicht zum Priestertum geeignet, weil es ihnen generell schwerfalle, menschlich korrekte Beziehungen zu Männern und Frauen zu unterhalten; homosexuelle Partnerschaften dürften nicht gesegnet werden, weil sie grundsätzlich keinerlei Gemeinsamkeit mit heterosexuellen besäßen", zählt Stephan Goertz auf.
Gerade das Verbot der Segnung homosexueller Paare durch den Vatikan im März 2021 schlug hohe Wellen und sorgte für große Enttäuschung und Ärger bei zahlreichen reformwilligen Gläubigen. In einem sogenannten "Responsum ad dubium" hatte die Glaubenskongregation erklärt, die katholische Kirche habe nicht die Vollmacht, gleichgeschlechtliche Verbindungen zu segnen. Es sei demnach "nicht erlaubt, Beziehungen oder selbst stabilen Partnerschaften einen Segen zu erteilen", die sich außerhalb der sakramentalen Ehe zwischen Mann und Frau befinden. Das Schreiben wies auf im Katechismus der Katholischen Kirche getroffene Feststellungen hin, dass "Menschen mit homosexuellen Neigungen" generell "mit Respekt und Takt aufzunehmen" seien. Möglich sei es lediglich, "einzelne Personen mit homosexuellen Neigungen" zu segnen, "die den Willen bekunden, in Treue zu den geoffenbarten Plänen Gottes zu leben, wie sie in der kirchlichen Lehre vorgelegt werden".
Laut Politi sollte die Bedeutung dieses Dokuments jedoch nicht überbewertet werden. Wenn man sich mit einer Frage an die Glaubenskongregation wende, sei eine Antwort obligatorisch. "Da es bis jetzt keine Änderung im Katechismus gab, hat Franziskus dieses Dokument, das an der alten Glaubenslehre haftet, gebilligt", erklärt der Vatikan-Experte. Dazu befinde sich das Responsum auf der untersten bürokratischen Stufe lehramtlicher Texte. Doch der Widerspruch zwischen päpstlichen Äußerungen und Aussagen in vatikanischen Dokumenten bleibt bestehen. Wie ist dieser dann zu deuten? "Ich deute diese zwiespältige Position als Ausdruck eines päpstlichen Primats kirchenpolitischer Interessen", sagt Goertz. Franziskus verstehe es, unterschiedliche Wertüberzeugungen zu bedienen: Für liberale Ohren klinge das "Wer bin ich, ihn zu verurteilen" als befreiender Wandel; für Vertreter der traditionellen Lehre wirke die Beibehaltung der Lehre als Garantie, dass sich nichts ändern wird. "Die Sorge um die kirchliche Einheit siegt über menschenrechtliche Entschiedenheit, so lautet das Urteil aus der Perspektive sittlicher Selbstbestimmung", resümiert der Mainzer Moraltheologe.
Die Sorge um die Einheit der Kirche sieht auch Politi als Grund für den von ihm so bezeichneten "Zickzack-Kurs", den Franziskus bei innerkirchlich brisanten Themen wie etwa der Homosexualität bewusst fahre: Der Pontifex wolle den latenten Konflikt, den es mit konservativen Kräften bereits gebe, nicht öffentlich eskalieren lassen. "Franziskus weiß, dass es in der Kirche eine starke Gegenströmung gibt, die gegen eine neue Vision von Sexualität arbeitet. Die auch an alten lehramtlichen Positionen festhält und sie aggressiv verteidigt", erläutert der Vaticanista. Gleichzeitig wisse Franziskus auch, dass er kein Alleinherrscher in der Kirche sei. Auch deshalb regiere er sehr oft mit Gesten und Worten, weniger mit Dokumenten. "Und bei seinen Gesten wird seine Linie deutlich." Die Gesten speisten sich aus seiner tiefbegründeten theologischen Überzeugung, dass alle Menschen Kinder Gottes seien. In dieser Auffassung werde der Mensch nicht mehr allein auf dem Hintergrund der Lehre beurteilt, sondern danach, wie er, eingebunden in seine Lebenswirklichkeit, versuche, nach bestem Wissen und Gewissen sein Leben zu gestalten – und dass das eben nicht nur darin besteht, Normen umzusetzen.
Responsum bald vergessen?
So gesehen sind für den Vatikan-Experten die Aussagen von Papst Franziskus über Homosexuelle nicht nur nette Worte. Mit ihm seien Neuerungen gekommen – und die ließen sich nicht mehr rückgängig machen. "Es kann keinen Papst mehr geben, der sagt, Homosexuelle müsse man achten und begleiten, aber ihr Handeln sei verdammt." Ein Pfarrer aus dem deutschsprachigen Raum habe ihm gegenüber einmal gesagt, dass man bei diesen Fragen nun nicht mehr "jonglieren" müsse, erzählt Politi. Der Buchstabe von offiziellen Dokumenten mobilisiere die Hierarchie nicht mehr. Wer in Sachen Homosexualität von der festgeschriebenen kirchlichen Lehrmeinung abweicht und beispielsweise auch Paare segnet, müsse keine Bestrafung fürchten, weil unter Papst Franziskus eben eine neue Richtschnur gelte. Mit Blick auf das Responsum der Glaubenskongregation ist Marco Politi deshalb überzeugt, "dass es in ein paar Jahren vergessen sein wird".
Doch trotz aller Öffnung, die es unter Franziskus gab: Auf lehramtlicher Ebene bleibt bislang alles beim Alten – inklusive einer Sprache gegenüber Homosexuellen in kirchlichen Dokumenten und Äußerungen, die viele verletzt. Trotz intensiver Reformforderungen aus einigen Ortskirchen, etwa aus Deutschland: Die Weltkirche als Ganze scheint noch nicht für den großen Schritt, nämlich einer offiziellen Neubewertung von Homosexualität, bereit zu sein. "Es ist zu vermuten, dass die römische Weise, religionspolitische Eigeninteressen gegenüber Wertüberzeugungen abzuwägen, das moralische Ansehen des Katholischen weiter erodieren lassen wird", sagt Stephan Goertz.