Theologe Essen: Katholische Kirchenkrise brisant und dramatisch
Die Situation der römisch-katholischen Kirche ist nach Einschätzung des Berliner Theologen Georg Essen "ebenso brisant wie dramatisch". Auf der Basis ihrer Lehr- und Rechtsordnung gelinge es ihr nicht, "dem Freiheitsbewusstsein ihrer Gläubigen gebührende Entfaltungsmöglichkeiten zu eröffnen", sagte Essen am Freitag in Berlin. Der Direktor des Instituts für Katholische Theologie (IKT) an der Humboldt-Universität sprach beim Auftakt einer Tagung über "Religionspolitische Reformperspektiven für die Kirchen".
Essen betonte, es sei kein Ausweg, "dass der religionsneutrale Staat hier in die Bresche springen soll". Staatliche Eingriffe in die inneren Angelegenheiten der Kirchen verböten sich wegen des verfassungsrechtlich geschützten Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften. "Die überfällige Aufgabe einer Selbstmodernisierung muss die Kirche schon selbst leisten, die kann ihr niemand abnehmen – und schon gar nicht der Staat", so der Dogmatikprofessor.
Kann Kirche Stütze für Demokratie in der Krise sein?
Die Lage der Kirche sei jedoch "nicht allein ein internes Problem der Kirche selbst, mit dem sie klarkommt oder auch nicht", räumte Essen ein. Sie habe auch Folgen für das öffentliche Wirken der Kirche in die Gesellschaft hinein. "Kann eine Kirche wie die römisch-katholische für eine in die Krise geratene Demokratie eine Stütze sein, kann sie einen Beitrag zur Verlebendigung der politischen Identität leisten, kann sie das fragile Freiheitsbewusstsein von Bürgerinnen und Bürgern stärken, wenn es um ihre eigene Liberalitätskompetenz nicht zum Besten bestellt ist", fragte der IKT-Direktor. Dieses Thema "sollte den religionsneutralen und deshalb kooperationsoffenen Staat mehr umtreiben, als dies derzeit ersichtlich ist".
Essen äußerte die Vermutung, "die hartnäckige Weigerung der Kirche, dem Freiheitsbewusstsein der Moderne in ihrer inneren Verfassung angemessen Rechnung zu tragen", sei ein Indiz dafür, "dass sie in Zeiten der Krise jene liberale Demokratie nur halbherzig unterstützen wird, die ihr Gestaltungsräume eröffnet". Es gebe auch im Katholizismus Kräfte, "die für eine illiberale Demokratie, die für sie die wahrhaft christliche ist, eintreten und deshalb die antimodernistische Verschärfung suchen".
Bei der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in den Kirchen muss sich der Staat nach Auffassung von Pater Klaus Mertes allerdings mehr engagieren. Er müsse die Rolle einer "unabhängigen und vermittelnden Instanz" zwischen der Kirche als Täterorganisation und den von sexualisierter Gewalt betroffenen Menschen übernehmen, forderte der Jesuit auf einem Podium bei der Tagung in Berlin. Bei den bisherigen Maßnahmen zur Aufarbeitung sei die Kirche den Betroffenen weithin nicht "auf Augenhöhe begegnet".
Als damaliger Rektor des Berliner Canisius-Kollegs hatte Mertes frühere Fälle von sexualisierter Gewalt an Schülern des Jesuitengymnasiums bekannt gemacht. Dies gab den Anstoß, dass der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche in Deutschland insgesamt aufgedeckt wurde. Auch die evangelische Kirche befasste sich anschließend mit sexualisierter Gewalt in ihren Einrichtungen.
Mertes stellte zugleich klar, dass der Staat die Kirchen nicht aus ihrer Verantwortung entlassen und nicht anwaltschaftlich an die Stelle der Betroffenen trete dürfe. Vielmehr solle er die Betroffenen bei ihrer Selbstorganisation unterstützen und einen institutionellen "Rahmen" setzen, damit eine Aufarbeitung "nach demokratischen und rechtsstaatlichen Bedingungen" erfolgen könne.
Leimgruber: Bei staatlichem Engangement auch Mittel für unabhängige Studien
Auch der Sprecher der Betroffenen-Initiative "Eckiger Tisch", Matthias Katsch, betonte, eine stärkere staatliche Förderung solcher Vereinigungen sei dringend notwendig. Er begrüßte, dass der "Eckige Tisch" in diesem Jahr erstmals Mittel aus dem Bundeshaushalt bekomme. Katsch erklärte, ein staatlicher Rahmen bei der weiteren Aufarbeitung könne gute Ansätze, die es in der Kirche dazu gebe, zusammenfassen.
Die Regensburger Pastoraltheologin Ute Leimgruber erklärte, sie erwarte von einem stärkeren staatlichen Engagement auch Mittel für unabhängige Studien über bislang unerforschte Aspekte sexualisierter Gewalt. Als Beispiel nannte sie erwachsene Frauen als Opfergruppe. Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse warnte davor, dass die unverzichtbare Aufarbeitung von Missbrauch in der Kirche dazu führen könne, die gesamtgesellschaftliche Dimension des Problems zu missachten.
Bei der selben Tagung verteidigte Grünen-Politiker Konstantin von Notz das rechtliche Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften in Deutschland. Das Modell einer Trennung bei gleichzeitiger Kooperation habe eine "religiöse Aufladung" politischer Fragen, wie es sie in laizistischen Staaten gebe, weitgehend verhindert, sagte der Vize-Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion am Freitag in Berlin. Er verwies auf Massendemonstrationen in Frankreich, die sich gegen politische Reformen zugunsten homosexueller Menschen richteten.
Von Notz, der einer von drei Religionsbeauftragten seiner Fraktion ist, wandte sich dagegen, das deutsche Staats-Kirchen-Verhältnis wegen des Umgangs der Kirchen mit Fällen sexualisierter Gewalt infrage zu stellen. Missbrauch sei etwa in der katholischen Kirche ein weltweites Problem – auch in Ländern, in denen Religionsgemeinschaften einen ganz anderen rechtlichen Status haben. Zugleich betonte er, die Forderungen an die katholische Kirche zu einer nachdrücklicheren Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und einer Reform ihres besonderen Arbeitsrechtes seien berechtigt.
Öffnung von Spitzenfunktionen im Vatikan für Frauen "revolutionär"
Der Luzerner Staatskirchenrechtler Adrian Loretan hob hervor, die katholische Kirche habe Jahrhunderte lang wesentliche Beiträge zur Entwicklung parlamentarischer und demokratischer Regierungsformen geleistet. Diese Rechtstraditionen habe Papst Pius IX. jedoch mit dem Ersten Vatikanischen Konzil (1869-1870) "über Bord geworfen". Als revolutionär würdigte Loretan die Entscheidung von Papst Franziskus, auch Spitzenfunktionen im Vatikan für Frauen zu öffnen.
Der Berliner Staatsrechtler Christian Waldhoff verwies darauf, dass die Zusammenarbeit von Staat und Religionsgemeinschaften in Deutschland zu Veränderungen auf beiden Seiten geführt habe. So habe der Staat zur Etablierung von islamischem Religionsunterricht anstelle von kirchenähnlichen Kooperationspartnern Beiräte mit Vertretern muslimischer Organisationen akzeptiert. Bei diesen habe es im Gegenzug zu mitgliederschaftlichen Strukturen geführt, die in ihrer religiösen Tradition "nicht angelegt" gewesen seien. Der Staatskirchenrechtler Ansgar Hense (Bonn/Dresden) nannte es eine "ständige Aufgabe", die Grenzen der Kompetenzen von Staat und Religionsgemeinschaften auszuloten. (cbr/KNA)
24.6.22, 19.50 Uhr: ergänzt um weiter Stimmen der Tagung