Eine Revolution der Vergebung: Der Portiunkula-Ablass
Was Franziskus von Assisi im Jahr 1216 von Papst Honorius III. erbat, war eine kleine Revolution: Der "Poverello" wollte den Pontifex davon überzeugen, allen Gläubigen einen vollständigen Ablass zu gewähren, die eine kleine Kapelle in der Nähe von Assisi besuchten – die Portiunkula, die der Heilige kurz zuvor mit eigenen Händen aus den Resten einer Ruine wiederaufgebaut hatte. Das Unerhörte an der Bitte des Franziskus waren zwei Dinge: Zum einen sollte der Ablass "ohne Opfergaben" gewährt werden, sozusagen gebührenfrei. Wie der Franziskus-Biograf Thomas von Celano berichtet, soll Honorius III. diese Forderung anfangs abgelehnt haben, da Ablässe bis zum 13. Jahrhundert immer mit der Zahlung eines Geldbetrags verbunden waren.
Zum anderen wollte Franziskus einen vollständigen Ablass aller zeitlichen Sündenstrafen für die Besucher der Portiunkula – und nicht nur eine bestimmte Anzahl an Tagen weniger im Fegefeuer. "Eure Heiligkeit möge mir nicht Jahre geben, sondern Seelen", berichtet Bruder Thomas von den Franziskus' Verhandlungen mit dem Papst, der damals in Perugia residierte. Bis dahin waren vollständige Ablässe immer mit einer besonderen Leistung verbunden: der Teilnahme an einem Kreuzzug. Doch Honorius III. ließ sich vom frommen Wunsch des Heiligen aus Assisi erweichen und gewährte den umfassenden Portiunkula-Ablass in Verbindung mit dem Empfang des Bußsakraments. Er beschränkte ihn jedoch auf ein enges Zeitfenster: den Weihetag der Kapelle am 2. August und den Vorabend dieses Tages. Denn die ihn beratenden Kardinäle waren von Franziskus' Anliegen nicht sehr erfreut: Sie befürchteten das Wegfallen der Motivation zur Teilnahme an einem Kreuzzug sowie Nachteile für die Bischöfe und den Papst selbst, die Ablässe gegen Spenden als Bußleistung gewährten.
Wie genau Franz von Assisi den Papst von der Bestätigung des Ablasses überzeugen konnte, ist nicht überliefert. Aber die direkte Berufung auf einen göttlichen Auftrag wird bei Honorius nicht ohne Wirkung geblieben sein. Der Überlieferung nach soll Franziskus beim Gebet in der Portiunkula von Gott die Vision empfangen haben, um einen vollständigen Ablass zu bitten. Ob sich die Entstehung dieses außergewöhnlichen Privilegs wirklich so zugetragen hat und 1216 das erste Jahr des Portiunkula-Ablasses war, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit sagen – historisch bezeugt ist diese Praxis jedoch erst ab 1277.
Der Wunsch von Franziskus nach der Möglichkeit eines kompletten Neubeginns für die Portiunkula-Pilger in ihrer Beziehung zu Gott war in jedem Fall ein voller Erfolg. Die kleine Kapelle wurde zu einem wichtigen Wallfahrtsort, der fortan in einer Liga mit Jerusalem, Rom und Santiago de Compostela spielte. Bis zum Ende des 14. Jahrhunderts wurde das Ablass-Privileg auch auf weitere Kirchen der Franziskaner ausgedehnt und 1480 durch Papst Sixtus IV., der selbst ein Minderbruder war, schließlich auf alle Gotteshäuser des Ordens. Aus diesem Grund wurden in vielen dieser Kirchen eigene Portiunkula-Kapellen als freie Nachbildungen des Originals gebaut.
Im Laufe der Jahrhunderte dehnte sich die Gewährung des Ablasses auch auf Kirchen der anderen Orden der franziskanischen Familie aus. 1910 erweiterte Papst Pius X. das Privileg auch auf weitere Gotteshäuser, sodass nach einer Anpassung von Papst Paul VI. der Portiunkula-Ablass heute von jedem Katholiken zwischen dem Mittag des 1. August bis zum Abend des Folgetags einmal als vollständiger Ablass erlangt werden kann. Dazu bedarf es neben der Beichte den Empfang der Kommunion und ein Gebet in der Meinung des Papstes – also die heute üblichen Bedingungen für einen Ablass. Die Bedingungen können mehrere Tage vor oder auch nach dem Kirchbesuch erfüllt werden. Traditionell wird der von Franziskus von Assisi erbetene Ablass für die Verstorbenen erworben.
Ein Korb Fische als Jahreszins
Trotz der mit der Zeit erfolgten großen Erweiterung des Portiunkula-Ablasses, nimmt die kleine Kapelle bis in die Gegenwart eine Sonderstellung ein: In ihr kann an jedem Tag des Jahres der Ablass erworben werden – nicht mehr nur am 2. August. Den heiligen Franziskus hätte das sicher gefreut, denn die Portiunkula, was ganz unscheinbar "kleines Stückchen Land" bedeutet, war in seinem Leben ein Ort von großer Bedeutung. Die Kapelle gehörte zu den drei kleinen Kirchen, die er nach der Vision vor dem San-Damiano-Kreuz restaurierte, weil er Christi Auftrag, die Kirche wiederaufzubauen, wortwörtlich in die Tat umsetzte. Die in einem Steineichenwald drei Kilometer unterhalb von Assisi gelegene Kapelle soll im vierten Jahrhundert von einem Eremiten erbaut worden sein. 516 war sie in den Besitz des heiligen Benedikt von Nursia übergegangen und erhielt ihr Patrozinium "Unsere Liebe Frau von den Engeln". 1208 wollten die Benediktiner von Monte Subasio sie Franziskus schenken. Da er jedoch aufgrund seines Verständnisses von Armut Eigentum ablehnte, pachtete er die Kapelle zum Jahreszins von einem Korb Fische.
Die Portiunkula wurde nicht nur wegen des in der franziskanischen Identität wichtigen Ablasses zu einem bedeutenden Ort der Bewegung des Heiligen aus Assisi. 1212 erhielt die heilige Klara von Assisi in der Kapelle den Habit und begründete damit den weiblichen Zweig der franziskanischen Ordensfamilie. Außerdem versammelten sich bereits zu Lebzeiten des Franziskus an dem Kirchlein die Minderbrüder zu ihrem jährlichen Kapitel an Pfingsten – im Jahr 1221 sollen es über 5.000 gewesen sein. Kurz vor seinem Tod wurde Franz auf eigenen Wunsch zur Portiunkula gebracht und starb dort am 3. Oktober 1226. Er war dem Ort sehr zugetan und legte seinen Anhängern ans Herz, ihn nie zu verlassen. Die Portiunkula gilt deshalb als eine der Gründungsstätten des Franziskanerordens.
Wer die kleine Kapelle besuchen möchte, muss sich erstaunlicherweise auf den Weg zu einem großen Gotteshaus machen. Denn die Portiunkula ist heute eine Kirche innerhalb einer Kirche: Zwischen 1569 und 1679 wurde eine dreischiffige Basilika um die die Kapelle herumgebaut. Die Kuppel der päpstlichen "Basilica maior" befindet sich genau über der für den heiligen Franziskus so wichtigen Kapelle. Sie hat die Zeit gut überstanden und wurde auch bei einem Erdbeben 1832 kaum beschädigt, welches das Gewölbe der Basilika zum Einsturz brachte. Sie gehört bei einer Pilgerreise zu den franziskanischen Orten in Assisi zum festen Besuchsprogramm.
Für die meisten Assisi-Wallfahrer und auch einen Großteil der Katholiken hingegen ist der Portiunkula-Ablass heute wohl kein besonders wichtiger Termin im Jahr mehr. Bis zur Zeit der Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils sah das jedoch noch anders aus: Ablässe spielten für viele Katholiken eine große Rolle in ihrem Glaubensleben. Der Erwerb dieser Vergebungszusagen sollte sicherstellen, dass die eigene Seele oder die von Verstorbenen im Jenseits nicht allzu lange im Fegefeuer verbringen muss oder gleich zur Anschauung Gottes in den Himmel gelangen kann.
Die Entwicklung der katholischen Lehre vom Ablass, die auf dem Gnadenschatz der Kirche fußt, wollte dieser von Angst und Unsicherheit geprägten Haltung abhelfen. Auch wenn die Ablasslehre im Laufe der Geschichte oft missbraucht wurde, ist sie doch auf das in Christus begründete Heil der Gläubigen ausgerichtet. Das lässt sich etwa an der Großzügigkeit ablesen, mit der heute Ablässe erworben werden können – beim Verfolgen des päpstlichen Segens "Urbi et orbi" über Radio, Fernsehen und Internet an Weihnachten und Ostern, bei der Teilnahme an Weltjugendtagen oder eben beim jährlichen Portiunkula-Ablass.