Neues Buch behandelt verstörende Texte der Heiligen Schrift

Wie man mit irritierenden Bibelstellen umgehen kann

Veröffentlicht am 04.09.2022 um 12:20 Uhr – Lesedauer: 

Bonn/Stuttgart ‐ Manche Bibelstellen sind so verstörend, dass man sie gerne außen vor lassen würde. Ein neues Buch geht der Frage nach, wie man mit solchen Stellen umgehen kann – ohne sie zu umgehen. Einer der Herausgeber, der Mainzer Alttestamentler Thomas Hieke, spricht im katholisch.de-Interview darüber.

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Nach "Bibel falsch verstanden" kommt nun "Bibel um-gehen". In dem neuen Band des Katholischen Bibelwerks geht es jedoch nicht um Fehldeutungen biblischer Texte. Diesmal gehen die Herausgeber Thomas Hieke, Professor für Altes Testament in Mainz, und sein Fakultäts-Kollege aus dem Neuen Testament, Konrad Huber, einen Schritt weiter und werfen die Frage auf: Wie kann man mit all den Texten der Bibel, die den heutigen Leser irritieren oder gar verstören, umgehen, ohne diese zu umgehen? Dabei werden jene Stellen in den Blick genommen, die man gerne ausklammern würde: Texte, die Gewalt gegen Frauen und Kinder, übertriebene Strafen, verstörende Bilder von Sexualität, Vernichtungsfantasien und einen radikalen Gott thematisieren. Wie lassen sich diese Texte mit unserem Gottes-, Welt- und Menschenbild vereinen? Und was können Sie uns sagen? Thomas Hieke gibt im Interview Antworten.

Frage: Manche Stellen verstören Leser enorm, wenn sie die Bibellektüre bisher eher auf die Weihnachtsgeschichte reduziert haben. Provokant gefragt: Ist Gott gar nicht so lieb, wie wir immer denken, Herr Hieke?

Hieke: Tatsächlich begegnen uns in der Bibel sehr vielfältige Gottesvorstellungen. Die Menschen haben ganz unterschiedliche Erfahrungen mit diesem Gott gemacht, an den sie glauben. Eben auch, dass dieser Gott fern, abwesend, dunkel und undurchschaubar ist. Wie Gott wirklich ist, wissen wir nicht. In der Bibel steht nur, aber immerhin, wie Menschen diesen Gott erfahren haben.

Frage: Kann man die "schwierigen" Bibelstellen wiederkehrenden Motiven zuordnen – etwa Naturkatastrophen, Krankheiten oder Gewalt?

Hieke: Das sind so die wichtigsten Motive. Bis heute verunsichern uns Naturkatastrophen, Krankheiten, Kriege. Das erfahren wir aktuell ganz stark am eigenen Leib. Die Bibel ist sozusagen eine Sammlung uralter Antwortversuche, modern gesprochen ein Reservoir an menschlicher Resilienz: Wie haben es Menschen geschafft, in größter Not nicht aufzugeben? Sie haben dann mit diesem Gott gerungen und sich ihm anvertraut, auch wenn er sich ihnen manchmal rätselhaft zeigte – oder auch gar nicht.

Frage: Schnell ist man dabei, die schwierig erscheinenden Stellen zu relativieren oder ihnen keine allzu große Bedeutung zuzumessen…

Hieke: Wenn man diese Stellen umgeht, verpasst man viele Geschichten, die zeigen, wie Menschen mit diesen Schwierigkeiten zurechtgekommen sind. Menschen neigen zwar dazu, Unangenehmes zu übertünchen. Aber die Bibel ist hier nun mal unangenehm anders und legt oft den Finger in die Wunde. Daraus kann man dann viel lernen.

Frage: Vermutlich auch im Blick auf das eigene Gottesbild.

Hieke: Es weitet das eigene Gottesbild. Manchmal hat man sich Gott ein wenig zurechtgemacht: immer griffbereit, aber nicht störend. Wenn man sich das eigene Gottesbild so zurechtmacht, entspricht es aber nicht mehr Gott.

Alttestamentler Thomas Hieke
Bild: ©Sebastian Holzbrecher

Thomas Hieke ist Professor für Altes Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz.

Frage: Wenn wir nun auf die praktische Ebene schauen: Welche Hilfestellungen gibt es generell, um mit schwierigen Bibelstellen umzugehen?

Hieke: Eins gilt immer: exakt lesen, Nuancen wahrnehmen. Wichtig ist zunächst der Kontext, in dem diese Stelle steht. Ist sie vielleicht Teil einer größeren Geschichte? Und dann ist entscheidend, aus welchem Blickwinkel die Geschichte geschrieben ist. Gerade in der Bibel gibt es Literatur, die anders als viele andere antike Literaturen nicht aus der Siegerperspektive geschrieben ist, sondern aus der Opferperspektive. Dann muss man sich immer fragen: Was genau stört mich an dem Text? Denn das, was ich als störend empfinde, kann unter Umständen ein grundlegendes Problem sein, dass es bis heute gibt und für das man auch heute keine Lösungen hat. Manchmal ist der Text auch so eine Art Karikatur, die ganz bewusst übertreibt, überspitzt, um auf einen wichtigen Punkt hinzuweisen. Man muss auch mit einer angenommenen "Unmittelbarkeit" der Bibel äußerst vorsichtig sein. Vieles in der Bibel darf man ja gar nicht wörtlich nehmen oder nachahmen. Manches dürfen wir aus heutiger Sicht mit Recht kritisieren, weil wir im ethischen Bereich weitergekommen sind.

Frage: Haben Sie ein konkretes Beispiel parat?

Hieke: Das behandeln wir zwar nicht im Buch, aber es eignet sich hier sehr gut: Die Bibel etabliert für die Bestrafung eines Mörders in Genesis 9 die Blutrache. In der damaligen Zeit war das ein Fortschritt gegenüber blutigen Familienfehden. Heute gibt es andere Wege, einen Mord an einem Menschen zu sühnen. Aus der Bibel abzuleiten, man müsse Blutrache üben, wäre also eine eindeutig falsche Unmittelbarkeit. Gleichwohl bleibt der biblische Impuls der, das nach einem Mord nicht einfach zur Tagesordnung übergegangen werden kann.

Frage: Sie haben davon gesprochen, dass manche Stellen bewusst als Überspitzung, fast als Karikatur gedacht sind. Welche können Sie da anführen?

Hieke: Im Buch Exodus wird die Geschichte des Pharao, der partout nicht auf Gott hören will, auf die Spitze getrieben. Gott besiegt ihn schließlich nicht durch eine große Engelarmee, sondern – völlig unerwartet – dadurch, dass er das Meer teilen lässt und die Ägypter darin ertrinken. Ein weiteres Beispiel ist das Buch Judit, bei dem klar ist, dass es sich um eine fiktionale Geschichte handelt: Die Leute im belagerten Betulia wissen nicht mehr weiter. Die schlaue Judit macht sich schön, geht ins feindliche Heereslager, betört Holofernes – und nachdem er betrunken ist, schlägt sie ihm den Kopf ab. Das ist geradezu grotesk, völlig überzeichnet, gegen jede menschliche Kriegslogik. Was all diesen Stellen gemeinsam ist, ist ein Satz, der vor allem in der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, auftaucht: Gott ist einer, der die Kriege "zerschmettert". Das wird mit solchen überzeichneten Geschichten biblisch dargestellt, um zu zeigen: Wenn Gott in menschliche Kriege eingreift, dann nicht so, wie der Mensch es erwarten würde, sprich mit noch stärkeren Waffen, sondern auf nahezu absurde Weise.

„Man muss auch mit einer angenommenen "Unmittelbarkeit" der Bibel äußerst vorsichtig sein. (...) Manches dürfen wir aus heutiger Sicht mit Recht kritisieren, weil wir im ethischen Bereich weitergekommen sind.“

—  Zitat: Thomas Hieke

Frage: Wie geht man mit Stellen um, in denen Gott als gewalttätig oder rachsüchtig beschrieben wird?

Hieke: Zwei Stellen würde ich da als Beispiele nennen. Psalm 94 schreibt: "Herr, du Gott der Vergeltung erscheine." Und in Nahum 1 heißt es: "Ein eifernder Gott, der Vergeltung übt, ist der Herr. Vergeltung übt der Herr und ist voll Zorn. Der Herrübt Rache an seinen Gegnern und hält fest am Zorn gegen seine Feinde." Das klingt rachsüchtig, ist es aber nicht. Denn die hebräischen Begriffe werden hier nur sehr unzureichend wiedergegeben. Im Deutschen wirkt das gewalttätig und irrational. Es geht aber um den gerechten Ausgleich. Die Menschen hoffen auf einen Gott der Bibel, der die Gerechtigkeit, die im Zusammenleben der Menschen in Schieflage geraten ist, wiederherstellt. Das ist mit Vergeltung gemeint. Ein Gott also, der die Unterdrücker unterdrückt, der das Unrecht beseitigt. Und das geht nicht schmerzfrei – das wissen wir auch aus unserem Alltag. Da muss ich sagen: Ich bin froh, dass uns diese biblischen Texte vor Augen führen, dass Gott mit großer Macht diese Gerechtigkeit wiederherstellen will. Auf diesen Gott hoffe ich nämlich auch.

Frage: Es gibt auch Bibelstellen, die für die aktuellen Debatten etwa beim Synodalen Weg nicht uninteressant sind – etwa mit Blick auf eine der Kirche manchmal vorgeworfene "Frauenfeindlichkeit". Was sagt die Bibel dazu?

Hieke: Die Bibel ist in der Antike entstanden, in der es eine klare Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern gab. Wir bewundern in der Bibel Figuren wie die Richterin Debora oder die Prophetin Miriam. Das waren aber Ausnahmen, Frauen waren üblicherweise nicht in Leitungspositionen. Wenn wir aber in die Bibel schauen, merken wir am Anfang in den Genesis-Texten ein Verhältnis zwischen den Geschlechtern, das die Autoren als von Gott intendiert beschreiben. Beides, Männliches und Weibliches, wie es heißt, sind als Bild Gottes geschaffen. In der zweiten Schöpfungserzählung ist die Frau aus der Seite des Menschen gemacht, der sich erst nach diesem Vorgang als Mann erkennt. Nicht aus dem Kopf, dass sie über ihm steht, nicht aus den Füßen, dass sie unter ihm steht. Wir sagen immer aus der Rippe, aber es ist die Seite gemeint – damit die Frau dem Mann auf Augenhöhe gegenübersteht. Die Unterordnung in der antiken Praxis ist dann eine Folge der Veränderung, die durch Genesis 3, also mit der Erkenntnis der zweischneidigen Freiheit des Menschen, eintritt. Da kommt der Mensch in der Wirklichkeit an. Man kann aber nicht behaupten, dass diese Wirklichkeit – die Unterordnung der Frauen – so gewollt ist. Da wird lediglich erklärt, wie es damals eben war – und in vielen Fällen bis heute immer noch so ist. Genesis 1 und 2 haben sich aber erstaunlich weit vorgewagt hinsichtlich der idealen Gleichberechtigung von Mann und Frau.

Frage: Manche Bibelstellen werden auch für das Thema Homosexualität herangeführt. Was lässt sich aus Ihrer Sicht dazu sagen?

Hieke: Was wir heute unter Homosexualität verstehen, also ein Konzept gleichberechtigter Partnerschaft, Liebe und Verantwortung zwischen Menschen gleichen Geschlechts, kennt die Bibel nicht. Deshalb sagt sie dazu auch nichts. Man muss vorsichtig sein, wenn man da bestimmte Stellen hervorholt. Es geht um bestimmte Praktiken, die die Bibel – prominent im Buch Levitikus – verurteilt, die aber nichts mit unserem heutigen Verständnis von homosexueller Partnerschaft zu tun haben. Auch hier muss man genau hinsehen. Diese Verbote bestimmter Praktiken stehen im Zusammenhang mit dem Verbot, mit einem Tier oder mit einer Menstruierenden zu verkehren. Das sind Kontexte, in denen es darum geht, wie man Nachkommen vermeidet, aber dennoch seinen Sexualtrieb ausleben kann. Das war den Priestern, die diese Texte formuliert haben, ein Dorn im Auge, weil das Volk Israel um jeden Preis Nachkommen brauchte. Unsere Gesellschaft heute ist nicht in dieser Zwangslage.

Ein lesbisches Paar hält Händchen
Bild: ©adobestock/kenchiro168 (Symbolbild)

"Es geht um bestimmte Praktiken, die die Bibel – prominent im Buch Levitikus – verurteilt, die aber nichts mit unserem heutigen Verständnis von homosexueller Partnerschaft zu tun haben", sagt Thomas Hieke zu Stellen, die angeblich Homosexualität verurteilen.

Frage: Sie sagen, in der Bibel steht nichts zu Homosexualität, wie wir sie heute verstehen. Darüber gibt es auch einen breiten Konsens in der Forschung. Dennoch wird gerade Paulus häufig als "Kronzeuge" für das Verbot gelebter Homosexualität herangeführt. Wie erleben Sie die Diskussion um die Paulus-Worte?

Hieke: Bei den Stellen im Römerbrief, die oft genannt werden, geht es darum, dass Paulus menschliches Fehlverhalten verurteilt: Uneinsichtigkeit, Lieblosigkeit, Ablehnung Gottes. Und insbesondere im sogenannten Lasterkatalog im Ersten Korintherbrief wird der vermeintliche gleichgeschlechtliche Verkehr unter Männern im Zusammenhang von bewusst begangenen Verfehlungen gesehen – wie Götzendienst, Diebstahl, Raub, Trunksucht und Ehebruch. Wenn wir heute davon ausgehen, dass man sich seine sexuelle Orientierung nicht aussuchen kann, sondern man sie an sich entdeckt und sie dann in seine eigene Persönlichkeit integrieren muss, dann ist das etwas ganz anderes. Bei den Texten, die Paulus da schreibt, denkt er an heterosexuelle Menschen.

Frage: Auch wenn das alles seit Jahren Forschungskonsens ist – in der Kirche scheint das alles nicht so ganz anzukommen. Warum hält sie in ihrer Lehre immer noch daran fest, homosexuelle Partnerschaften abzulehnen, wo doch die Bibel das zentrale Offenbarungszeugnis der Kirche ist?

Hieke: Das frage ich mich auch. Wenn man aber die Idee von einer Kirche hat, in der alles perfekt geregelt ist, in der sich nichts ändern muss und nichts ändern darf, dann darf sich auch in der Sexualmoral nichts ändern. Aber es gibt ja Bereiche, in denen die Kirche ihre frühere Lehrmeinung revidiert hat, etwa bei der Todesstrafe. Sie galt früher als "ultima ratio" und erlaubt, wurde nun aber von Papst Franziskus aus dem Katechismus gestrichen. Von daher könnte es auch im Fall der Homosexualität zu einem Umdenken kommen.

Frage: Noch eine persönliche Frage: Was ist für Sie die schwierigste Stelle, bei der Sie sich bis heute trotz allen Wissens und trotz aller exegetischen Erfahrung schwertun, sich einen Reim darauf zu machen?

Hieke: Das ist für mich die Vorstellung, dass Gott die Herzen verstockt und Ohren verstopft. Das ist in der Exodus-Geschichte beim Pharao so, und auch in Jesaja 6 kommt das vor. Aus der Exegese weiß ich, dass das ein menschlicher Deutungsversuch für eine Alltagserfahrung ist, die wir kennen. Wir fragen uns bei manchen Menschen ja auch, wieso sie so vernagelt sind. Der Erklärungsversuch ist dann, dass Gott vielleicht dahintersteckt. Mir fällt diese Vorstellung aber sehr schwer. Ich hoffe dann, dass derjenige, der hier verstockt, auch die Herzen wieder öffnen kann.

Von Matthias Altmann

Buchtipp

Thomas Hieke, Konrad Huber: Bibel um-gehen. Provokative und irritierende Texte der Bibel erklärt, Katholisches Bibelwerk 2022, ISBN: 978-3-460-25544-9, 336 Seiten, 24,95 Euro (Erscheinungstermin: 5. September 2022).