Richter: Diese Reformen empfehle ich für das kirchliche Arbeitsrecht
Erst seit 2005 können Streitigkeiten im kollektiven Arbeitsrecht vor kirchlichen Gerichten geklärt werden – vorher entschieden Schlichtungsstellen Konflikte zwischen Mitarbeitervertretungen (MAV) und Dienstgebern, ohne dass es eine Möglichkeit gab, die Entscheidungen zu überprüfen. Manfred Jüngst kennt beide Systeme: Er war der letzte Vorsitzende der Kölner Schlichtungsstelle, und der erste Vorsitzende Richter des Kölner diözesanen Arbeitsgerichts – bis heute. In seinen 25 Jahren an der Spitze wurde er zu einem der bekanntesten Kenner des kirchlichen Arbeitsrechts. Im Interview mit katholisch.de erläutert er, wie Rechtsschutz in der Kirche funktioniert – und wo der kirchliche Gesetzgeber nachbessern muss.
Frage: Herr Jüngst, in Ihrem Hauptberuf waren Sie Arbeitsrichter – und jetzt, knapp zehn Jahre nach Ihrer Pensionierung, sind Sie immer noch mit dem Arbeitsrecht beschäftigt. Wie kam es, dass Sie neben dem staatlichen auch das kirchliche Arbeitsrecht zu Ihrem Schwerpunkt gemacht haben?
Jüngst: Man kommt ja manchmal mehr oder weniger durch Zufall zu Dingen. So war das bei mir auch. Zunächst ist zu sagen, dass kirchliches Arbeitsrecht nicht unbedingt das ist, womit sich Juristen in ihrer Ausbildung beschäftigen. Das war bei mir nicht anders. Ich habe dann nach meinen Examina nichts anderes getan in meinem Berufsleben als Richter zu sein. Mit 28 Jahren bin ich Richter in der staatlichen Arbeitsgerichtsbarkeit geworden. Dann hat mich irgendwann der damalige Vizepräsident des Landesarbeitsgericht angesprochen, ob ich mir vorstellen könnte, bei Mitarbeitervertretungsschulungen mitzumachen. Er war damals Vorsitzender der Schlichtungsstelle des Erzbistums Köln. Ich habe mich damals ganz erstaunt gefragt, was das überhaupt ist – und so habe ich mich dann zum ersten Mal mit dem kirchlichen Arbeitsrecht befasst und mich zunehmend dafür interessiert. Das liegt jetzt gut 45 Jahre zurück.
Frage: Seither hat sich viel geändert, wie in der Kirche Konflikte im Arbeitsrecht gelöst werden …
Jüngst: Ja, das Wichtigste, was sich geändert hat, ist der Umstand, dass Sie mich heute als Vorsitzenden des kirchlichen Arbeitsgerichts ansprechen können. Als ich angefangen habe, hatte die Kirche noch gar keine Arbeitsgerichte, weder im katholischen noch im evangelischen Bereich. Für Konflikte im kollektiven Arbeitsrecht gab es nur Schlichtungsstellen. Daran gab es viel Kritik, sowohl in der juristischen Literatur wie durch das Bundesarbeitsgericht. Deshalb haben sich die kirchlichen Gesetzgeber entschlossen, die Schlichtungsstellen durch eine kirchliche Arbeitsgerichtsbarkeit zu ersetzen. Das hat geraume Zeit gedauert, bis 2005 dann für den Bereich der katholischen Kirche für Streitfragen aus dem kollektiven Arbeitsrecht die Kirchliche Arbeitsgerichtsordnung (KAGO) in Kraft treten konnte. Seitdem kann man davon sprechen, dass in der Kirche diese arbeitsrechtlichen Streitigkeiten gerichtlich geklärt werden. Zeitgleich wurden kirchliche Arbeitsgerichte für Streitfragen aus dem kollektiven Arbeitsrecht auch bei der evangelischen Kirche eingerichtet.
Frage: Wie unterscheidet sich das kirchliche Arbeitsgericht von der früheren Schlichtungsstelle?
Jüngst: Vorher gab es nur einen Spruch der Schlichtungsstelle, und damit war alles erledigt. Diese Entscheidungen konnten nicht überprüft werden – weder durch staatliche Gerichte noch durch irgendeine andere kirchliche Institution. Die kirchliche Arbeitsgerichtsbarkeit gleicht nun der staatlichen Gerichtsbarkeit. Es gibt eine Tatsachen- und eine Revisionsinstanz, nur die bei den staatlichen Gerichten vorgesehene zweite Tatsacheninstanz ist ausgespart. Die kirchlichen Arbeitsgerichte klären in der ersten Instanz alle Fakten und entscheiden auf der Basis dessen, was sie ermittelt haben. Unter bestimmten Bedingungen kann gegen Entscheidungen der ersten Instanz dann der Kirchliche Arbeitsgerichtshof als zweite Instanz angerufen werden. Das kommt aber nicht besonders häufig vor, weil an eine Revision – ebenso wie vor den staatlichen Arbeitsgerichten – strenge Anforderungen gestellt sind.
Frage: Sie kennen beide Systeme. Streitet man sich vor kirchlichen Gerichten anders als vor staatlichen?
Jüngst: Ich denke, dass der Grundgedanke der Dienstgemeinschaft immer noch trägt. Es braucht ziemlich lange, bis sich eine Mitarbeitervertretung entschließt, in einer Streitfrage das kirchliche Arbeitsrecht anzurufen. Betriebsräte sind grundsätzlich konfliktbereiter. Die meisten Verfahren vor den kirchlichen Gerichten gehen von den Dienstgebern aus. Das ist systembedingt, weil der Dienstgeber eine verweigerte Zustimmung einer Mitarbeitervertretung ersetzen lassen muss, etwa bei Einstellungen und sonstigen persönlichen Angelegenheiten wie insbesondere bei Eingruppierungen, wenn er die Maßnahme umsetzen will.
Frage: Eine andere Erklärung als eine gute Dienstgemeinschaft könnte auch fehlender Mut zur Klage sein. Sind kirchliche Mitarbeitervertreter konfliktscheu?
Jüngst: Da kann es einen Zusammenhang geben: Die Verbundenheit mit der Institution, mit dem Dienstgeber, kann auch mit einer gewissen Ängstlichkeit einhergehen, die Dienstgemeinschaft durch eine Klage zu stören. Im Erzbistum Köln gibt es ungefähr 550 katholische Einrichtungen, in denen Mitarbeitervertretungen gewählt sind. Seitdem es das kirchliche Arbeitsgericht gibt, also seit 2005, hat es noch kein Geschäftsjahr gegeben, in dem das kirchliche Arbeitsgericht im Erzbistum Köln mehr als 50 Verfahren bearbeiten musste. Dieses Jahr rechne ich mit insgesamt vielleicht 25 Verfahren. Ein Vergleich mit der staatlichen Arbeitsgerichtsbarkeit ist mir nicht möglich. Aussagekräftiges Zahlenmaterial, um einen Vergleich anstellen zu können, liegt mir dazu nicht vor.
Frage: Um was geht es bei diesen Verfahren?
Jüngst: Die meisten Verfahren sind wie gesagt Zustimmungsersetzungsverfahren. Bei diesen Zustimmungsersetzungsverfahren wiederum geht es in den meisten Fällen um die Eingruppierung von Beschäftigten, also im Ergebnis um Fragen nach der rechtmäßigen Entlohnung in Anwendung der Arbeitsvertragsrichtlinien des Deutschen Caritasverbandes (AVR) beziehungsweise der Regelungen in der Kirchlichen Arbeits- und Vergütungsordnung (KAVO) für den verfasst kirchlichen Bereich. Bei der Eingruppierung muss die MAV zugestimmt haben. Die Mitarbeitervertretung ist im Sinne einer Richtigkeitkontrolle verpflichtet, die vom Arbeitgeber beabsichtigte Eingruppierung gegenzuprüfen. Verweigert die Mitarbeitervertretung die Zustimmung, wird die Streitfrage der richtigen Eingruppierung auf Antrag des Dienstgebers im Rahmen einer Klage auf Ersetzung der Zustimmung zur Eingruppierung vom kirchlichen Arbeitsgericht entschieden.
Frage: Mitarbeitervertretungen bestimmen auch beim Gesundheitsschutz in einer Einrichtung mit. Gab es im Zusammenhang mit Corona viel Streit um Schutzkonzepte?
Jüngst: Schutzkonzepte wären erst im Rahmen einer Klage gegen einen Spruch der Einigungsstelle zu einem Schutzkonzept kirchengerichtlich zu überprüfen. Erstaunlicherweise hat es beim Kölner Gericht allerdings keine einzige Klage aus diesem Themenbereich gegeben. Ausgewirkt hat sich die Pandemie wohl auf die Fallzahlen, die seit 2020 deutlich zurückgegangen sind. Es gab im gesamten Geschäftsjahr 2021 insgesamt nur 10 Klagen.
Kirchlicher Rechtsschutz im Arbeitsrecht
In der katholischen Kirche regelt die Mitarbeitervertretungsordnung (MAVO) das kollektive Arbeitsrecht und die betriebliche Mitbestimmung. Für Rechtsstreitigkeiten sind gemäß der Kirchlichen Arbeitsgerichtsordnung (KAGO) in erster Instanz die diözesanen Arbeitsgerichte zuständig, die zum Teil für mehrere Bistümer zuständig sind, in zweiter der Kirchliche Arbeitsgerichtshof mit Sitz in Bonn. Wie bei staatlichen Arbeitsgerichten sitzen auch bei den kirchlichen Gerichten neben ausgebildeten Juristen auch Vertreter der Dienstnehmer- und der Dienstgeberseite als Beisitzer mit auf der Richterbank.
Einzelne Mitarbeiter können Streitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis nicht über kirchliche Gerichte durchsetzen – für Individualarbeitsrecht sind die staatlichen Arbeitsgerichte zuständig.
Frage: Die Mitarbeitervertretungsordnung (MAVO) räumt deutlich weniger Beteiligungsrechte ein als das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG). Das kritisieren vor allem die Gewerkschaften, aber auch die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung. Sehen Sie da auch Defizite?
Jüngst: Man kann es jedenfalls nicht leugnen, dass es so ist. Man muss aber auch festhalten, dass kirchliche Einrichtungen immer noch Tendenzbetriebe wären, wenn die Kirche auf ein eigenes kollektives Arbeitsrecht komplett verzichten würde. Und für Tendenzbetriebe allgemein, nicht nur für kirchliche, sind die Beteiligungsrechte auch im Betriebsverfassungsgesetz eingeschränkt. Es wird aber in der Tat immer wieder diskutiert, die Rechte von Mitarbeitervertretungen zu erweitern. Gerade wird die MAVO überarbeitet. Man wird sehen, wie sich das entwickelt.
Frage: Die MAVO ist als Richter Ihr tägliches Handwerkszeug. Wo sehen Sie Handlungsbedarf? Welche Reformen würden Sie sich wünschen?
Jüngst: Das kirchliche Arbeitsrecht sieht bei der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen einen erheblich besseren Arbeitnehmerschutz vor als das staatliche. Hier fehlt noch ein Mitbestimmungsrecht, damit die MAV das auch gegen Dienstgeber durchsetzen kann. Dann wäre es sinnvoll, ein Verhandlungsrecht zum Abschluss eines Interessenausgleichs bei Betriebsänderungen und im Zusammenhang damit Festlegungen für einen Nachteilsausgleich bei Verstößen einzuführen. Außerdem sollten die Beteiligungsrechte bei Zusammenlegungen oder Spaltungen von Einrichtungen gestärkt werden. Schließlich kennt die MAVO nur drei Gründe, warum eine MAV einer Einstellung nicht zustimmen darf: Wenn die Einstellung rechtswidrig ist, wenn der Arbeitsfriede durch die Einstellung bedroht würde, und im Zusammenhang mit Leiharbeit. Das BetrVG dagegen kennt insgesamt sechs, beispielsweise dann, wenn es um etwaige Nachteile Beschäftigter geht, wozu insbesondere auch im Betriebsverfassungsgesetz bei Einstellungen die Nichtberücksichtigung eines gleichgeeigneten befristet Beschäftigten zählt. Hier wäre eine Angleichung der MAVO an das BetrVG sinnvoll. Bei der Arbeitnehmerüberlassung gewährt die MAVO aber – dies sei ausdrücklich erwähnt – der MAV deutlich stärkere Rechte, als sie Betriebsräte nach dem BetrVG haben.
Frage: Schlägt sich hier also die katholische Soziallehre im kirchlichen Gesetz nieder?
Jüngst: So könnte man es begründen. Es hat allerdings eines Anstoßes hierzu bedurft. Auslöser dieser Regelung war nämlich eine Entscheidung aus der evangelischen Kirche. Das höchste Kirchengericht der EKD hatte entschieden, dass sich Arbeitnehmerüberlassung nicht mit dem Gedanken der Dienstgemeinschaft verträgt. Die katholischen Gesetzgeber haben nach dieser Entscheidung dies dann mit der Regelung in § 34 Abs. 2 Nr. 3 MAVO nachvollzogen.
Frage: Gibt es noch andere Beispiele, wie die Sozialethik der Kirche sich auf ihr Arbeitsrecht auswirkt?
Jüngst: Hier ist tatsächlich der Grundgedanke der Dienstgemeinschaft zentral. Vielen Regelungen liegt viel stärker als im staatlichen Recht ein Konsensprinzip zugrunde, etwa wenn nach Einwendungen der Mitarbeitervertretung zu einer ordentlichen Kündigung ein Gespräch mit dem Ziel einer Einigung zwischen Dienstnehmervertretern und Dienstgeber vorgeschrieben ist. Das Gespräch soll auch ermöglichen, Lösungen zu finden, mit denen sich eine Kündigung vermeiden lässt – so einen Zwischenschritt gibt es im staatlichen Recht nicht. Dafür sind allerdings wiederum die Widerspruchsrechte des Betriebsrats gegen eine ordentliche Kündigung dadurch deutlich stärker, dass sich aus einem ordnungsgemäßen Widerspruch des Betriebsrats gegen eine ordentliche Kündigung ein Weiterbeschäftigungsanspruch des von der Kündigung betroffenen Arbeitnehmers ableitet.
Frage: Im Entwurf der neuen Grundordnung des kirchlichen Dienstes sind die Abschnitte zum kollektiven Arbeitsrecht kaum verändert worden. Ist da also schon alles gut?
Jüngst: Grundsätzlich hat sich das kollektive Arbeitsrecht in der Kirche schon bewährt. Bei der anstehenden Novellierung der Grundordnung waren aber schlicht andere Prioritäten ausschlaggebend. Der Druck zur Reform lag bei den Loyalitätsobliegenheiten, nicht bei der betrieblichen Mitbestimmung.
Frage: Die Kirchliche Arbeitsgerichtsordnung war die erste überdiözesane Gerichtsordnung in Deutschland. Seither ist noch eine Datenschutzgerichtsordnung in Kraft getreten, Ordnungen für eine Straf- und Verwaltungsgerichtsbarkeit liegen noch in Rom. Aus Ihrer Erfahrung mit der KAGO: Was raten Sie dem kirchlichen Gesetzgeber? Was sollte er beachten, wenn er neue Gerichtsordnungen entwirft?
Jüngst: Das Wichtigste ist, klare Verfahrenswege zu beschreiben – und dabei nicht das Rad ganz neu zu erfinden. Im staatlichen Bereich gibt es genügend bewährte Verfahrensordnungen, die auch für den kirchlichen Bereich adaptiert werden können. So hat man es auch bei der KAGO gemacht, und das führt dazu, dass man auf die Expertise aus dem staatlichen Bereich zurückgreifen kann.
Frage: Eine Besonderheit beim kirchlichen Arbeitsgericht ist, dass die Verhandlungen öffentlich sind, auch die Entscheidungen müssen veröffentlicht werden – das gibt es sonst nirgends bei kirchlichen Gerichten. Welchen Stellenwert hat dieses Öffentlichkeitsprinzip?
Jüngst: Öffentlichkeit sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Die kirchlichen Arbeitsgerichte sind keine geheimen Institutionen, ihre Verhandlungen und Entscheidungen sind gleichwertig zu denen staatlicher Gerichte in arbeitsrechtlichen Angelegenheiten. Dass Verhandlungen hier öffentlich sind und Entscheidungen veröffentlicht werden, muss daher gewährleistet sein.
Frage: Unter Mitarbeitervertretern spricht man von Ihrem Gericht halb scherzhaft, halb respektvoll als "Jüngstem Gericht". Wie finden Sie diesen Spitznamen?
Jüngst: Man nimmt es gelassen hin, wenn es zur Rede kommt, lockert es die Verhandlungssituation auf, es sollte aber nicht dazu verführen, dass man sich selber so versteht.