Wallfahrtswesen im Mittelalter: Sammelband liefert neue Erkenntnisse
Von der Pilgerin zum Pilgerziel – die heilige Birgitta von Schweden (ca. 1303-1373) steht wie keine andere Heilige für das Pilger- und Wallfahrtswesen des späten Mittelalters. Das schreiben die Germanistinnen Elizabeth Andersen und Mai-Britt Wiechmann in ihrem Beitrag in dem neu veröffentlichten Sammelband "Pilgern zu Wasser und zu Lande". Birgitta kannte nicht nur die drei großen Pilgerziele, nämlich Rom, Jerusalem und Santiago de Compostela – sie besuchte auch zahlreiche kleinere Wallfahrtsorte.
Sehr bald nach ihrem Tod wurde sie selbst ein Wallfahrtsziel. Schon 1376, also nur drei Jahre nach Birgittas Tod, pilgerten die Menschen zu dem von ihr begründeten Kloster im schwedischen Vadstena. Im heute brandenburgischen Nettgendorf (Gemeinde Nuthe-Urstromtal im Landkreis Teltow-Fläming) wurde ein erster Kultort in Form einer Kapelle für sie geschaffen – nach Angaben der beiden Forscherinnen einer der frühesten außerhalb Schwedens.
Pilger ließen sich nicht von weiten Entfernungen abschrecken
Wer genau dieser Mönch Albert war, der sich so für die schwedische Heilige einsetzte, ist heute nicht mehr herauszufinden, aber er hatte großen Erfolg. Es kamen nämlich Pilger von überall her nach Nettgendorf, um Birgitta zu verehren. Die Heilige wirkte auch Wunder und soll nach damaligen Berichten sogar Tote zum Leben auferweckt haben. Die Wallfahrt endete mit der Reformation, als die Kapelle abgerissen wurde. Heute ist nicht einmal mehr der genaue Standort bekannt.
Pilger aus Skandinavien wie zum Beispiel die heilige Birgitta ließen sich nicht von den weiten Entfernungen zu den Wallfahrtsorten abschrecken. Alle Wege führen nach Rom, aber nur drei von Skandinavien ans Ziel, so der in Kopenhagen lehrende Carsten Jahnke.
Der älteste und bekannteste war der Austrvegr, der Ostweg. Dieser führte von Skandinavien über das heutige Livland, dann über Russland nach Byzanz (heute Istanbul) und von dort aus in den Mittelmeerraum. Ein anderer Weg begann in Dänemark, dann ins heutige Norddeutschland und von dort aus über verschiedene Verkehrswege nach Rom oder weiter nach Santiago de Compostela beziehungsweise Jerusalem. Der Seeweg brachte die Pilger per Schiff an der Atlantikküste entlang durch die Straße von Gibraltar ins Mittelmeer.
Die Reise mit dem Schiff ging am schnellsten. Die Gefahr, unterwegs ausgeraubt zu werden, war dabei am geringsten, wenngleich Überfälle oder Naturkatastrophen immer möglich waren. Tatsächlich gab es sogar um 1513 Pauschalangebote für Pilger – alles inklusive, wie der Historiker Hartmut Kühne entdeckt hat. Der Antwerpener Schiffsbesitzer Dieterich Paeschen wollte sich den Markt für wohlhabende Pilger erobern und ließ dafür sogar ein Werbeblatt drucken, auf dem er die Kosten auflistete und darlegte, was es genau an Bord zu Essen und Trinken gab.
Kaum Privatsphäre bei Schiffsreisen
Ruth Schilling vom Schifffahrtsmuseum Bremerhaven beschreibt in ihrem Beitrag über Schiffe als soziale Räume, dass sich die Reisenden mit Hilfe von Zelten oder auch wasserdichten Schlafsäcken vor dem Wetter schützen wollten, wenn sie auf dem Deck blieben. Unter Deck trafen sie auch auf Läuse, Ratten und Siebenschläfer als Mitreisende. Überhaupt gab es kaum Privatsphäre; nur weiblichen Passagieren wurde ein Rückzugsraum ermöglicht. Auch die gesellschaftlichen Hierarchien wurden beachtet.
Der Paduaner Arzt Galeazzo di Santa Sofia veröffentlichte um 1400 eine Schrift, in der er Regeln für eine gelungene Seereise aufstellte: Leicht essen und trinken, keine starken Weine, kein Sex, bestimmte Pillen bei Verstopfung, zweimal die Woche den Kopf waschen und morgens die Haare kämmen. Mit Hygiene war es auf den Schiffen so eine Sache. Die Pilger hatten Gefäße aus Ton bei sich, in denen sie sich nachts erleichtern und bei Bedarf auch erbrechen konnten. Dumm war nur, wenn die Gefäße zerbrachen - dann kam es zu Streit. Überhaupt versuchten die Schiffsreisenden nachts den Weg zur Toilette zu vermeiden, morgens standen sie dann Schlange.
Das, was die Pilger damals wussten, nämlich, das Unterwegssein eine echte Herausforderung darstellt, erfahren Reisende im Moment auch wieder – ob in einer Schlange vor der Security am Flughafen oder in einem überfüllten Zug.
Buchtipp
Hartmut Kühne und Christian Popp (Hrsg.): Pilgern zu Wasser und zu Lande (Jakobus-Studien). Narr Francke Attempto Verlag, Tübingen 2022, 502 Seiten, 58 Euro.