Vor 900 Jahren: Petrus Venerabilis wird Abt von Cluny
Es ist eine Ironie der Kirchengeschichte, dass die großen religiösen Reformorden des Mittelalters einem paradoxen Zyklus unterlagen. Gegründet von glühenden Asketen, die das radikale Armutsideal des benediktinischen Mönchtums erneuern wollten, zogen sie mit ihrer Strahlkraft Tausende in ganz Europa an. Erst Tausende junger Männer, die ein anderes Leben suchten – dann Tausende frommer Stiftungen, mit denen der Adel der Zeit sein Seelenheil zu sichern wünschte. Aus radikal armen Bewegungen wurden so immer wieder sehr schnell reiche und mächtige Kloster-Imperien, die sich über viele Länder erstreckten.
Eines der bekanntesten war Cluny. Als Petrus Venerabilis am 22. August 1122, vor 900 Jahren, Abt des burgundischen Mutterklosters wurde, hatten die Cluniazenser mit ihren Hunderten Tochterklöstern ihren geistlichen Zenit bereits überschritten. Doch inmitten zunehmender wirtschaftlicher Probleme, Verfall der Ordensdisziplin und inneren Streitigkeiten führte er den Klosterverband in seiner Amtszeit noch einmal zu einer Blüte.
Die kirchliche Karriere war ihm von Beginn an vorgezeichnet. Pierre Maurice de Montboissier wurde um 1094 in ein Adelsgeschlecht in der Auvergne geboren. Die Mutter starb als Ordensfrau; und von ihren acht Söhnen gelangten fünf in hohe kirchliche Ämter, unter anderen als Erzbischof von Lyon oder als Abt von Vezelay in Burgund. Pierre trat mit 15 Jahren in Cluny ein, und bereits mit 28 Jahren beerbte er durch Wahl den betagten Abt Hugo II., der nach nur drei Monaten im Amt gestorben war.
Das Unternehmen Cluny war zu komplex und kompliziert geworden
Nachdem er die Revolte eines früheren, zurückgetretenen Abtes, Pontius von Melgueil, überstanden hatte, ging der junge Petrus ein existenzielles Problem an: Das global agierende Unternehmen Cluny war zu komplex und kompliziert geworden, um von einem einzigen Chef in der Schaltzentrale gesteuert zu werden.
Neben Tendenzen zur Verselbstständigung einzelner Klöster brachten die aufkommende Geld- statt Naturalwirtschaft und die drückenden Kosten für die riesige Klosterkirche, die mit 187 Metern Länge für Jahrhunderte der größte Kirchenbau der Christenheit war, den Tanker Cluny ins Schlingern. 1125 stürzte ein mächtiger Teil des fast fertiggestellten Kirchenschiffs ein.
Von der größten Kirche der Welt blieb nur ein Stumpf übrig
Man steht davor und fasst es nicht! Wo heute fast nichts mehr ist, stand über Jahrhunderte die größte Kirche der Welt. Es braucht einiges an Fantasie und High-Tech-Hilfen, um sie im Kopf wiedererstehen zu lassen.
Noch schwerer wog die "Konkurrenz" von neuen, aufstrebenden Orden, angeführt von der prägenden Gestalt eines ganzen Zeitalters. Bernhard von Clairvaux (um 1090-1153) sparte nicht mit Polemik gegen den Reichtum, den Prunk der Cluniazenser-Klöster und deren kommodes und entbehrungsarmes Leben.
Mit einem erneuerten, radikalen Armutsideal eroberten seine Zisterzienser den Kontinent. Denn im Zuge einer neuen Bußfertigkeit suchten viele Menschen zu Beginn des 12. Jahrhunderts im Kloster eher das "richtige" Mönchtum denn materielle Sicherheit. Hinzu kam die für Kleriker attraktive Lebensform der Regularkanoniker, der Prämonstratenser.
Petrus Venerabilis setzt Qualitätsoffensive
Tatsächlich gab es bei den Cluniazensern nicht wenig Beschwerden über eine mangelnde spirituelle Güte der Kandidaten. Petrus Venerabilis setzte dagegen – modern gesprochen – eine Qualitätsoffensive. In zwei Generalkapiteln, 1132 und 1146, setzte er mit Billigung des Papstes neue, strengere Statuten für seinen Klosterverband durch.
Die Liturgie wurde wieder bescheidener, das mönchische Leben wieder ernster genommen. Historiker würdigen allerdings – mehr als einen durchschlagenden Erfolg – Petrus' geistige Beweglichkeit, seine Besonnenheit, Dialogfähigkeit und seinen unermüdlichen Einsatz. Immerhin: Es gelang dem effizienten Verwalter, seinen verunsicherten Ordensverband zu stabilisieren.
Neben seiner Klosterreform entfaltete Petrus Venerabilis – trotz seiner dauerhaft schwachen Gesundheit – eine weit gespannte politische Tätigkeit. Er bereiste Europa, schrieb Briefe an Päpste und Kaiser, Patriarchen und Könige. Und es war letztlich der Abt von Cluny, der 1130 das Schisma in Rom für Papst Innozenz II. und gegen dessen Widersacher Anaklet II. – einen ehemaligen Cluniazenser – entschied.
All dieser Eifer, all dieses Engagement aber war überlagert oder begleitet von der (wenn auch freundschaftlichen) Rivalität mit dem fast gleichaltrigen Bernhard von Clairvaux. Als Bernhard den aufmüpfigen Theologen Abaelard verurteilen und verfolgen ließ, war es Petrus, der diesem Obdach gewährte und eine Aussöhnung mit dem Papst und mit dem Zisterzienser Bernhard vermittelte. Und als Abaelard starb, schrieb der einfühlsame Abt von Cluny sogar einen Trostbrief an dessen einstige Geliebte Heloise.
Selig- oder Heiligsprechung war ihm nicht vergönnt
Allerdings: Man schlug sich und man vertrug sich, ja der um Ausgleich bemühte Petrus schätzte durchaus den unbedingten Reformwillen des anderen. Er erkannte Bernhard an als die "starke Säule, die, einem besonderen Plan der göttlichen Vorsehung folgend, den gesamten Bau des monastischen Lebens trägt".
Als Argumentationshilfe für eine Auseinandersetzung der Christen mit dem Islam gab der Abt von Cluny die erste Koran-Übersetzung ins Lateinische in Auftrag. Und als er Bernhard nicht für eine theologische Widerlegung der islamischen Lehren gewinnen konnte, unternahm er es selbst, eine – für den Zeitgeist noch vergleichsweise konziliante – Streitschrift in zwei Bänden zu verfassen.
Der Tod kam für Petrus Venerabilis am Weihnachtstag 1156, nach 34 aufreibenden Jahren an der Spitze eines Weltkonzerns. Eine Selig- oder gar Heiligsprechung wie seinem übergroßen Schatten Bernhard von Clairvaux oder dem Gründer der Prämonstratenser, Norbert von Xanten, war ihm nicht vergönnt.