Jung, evangelisch – und im Kloster
Es ist kurz nach sechs Uhr abends, durch die hohen Fenster scheint die Sonne, Psalmengesang füllt den Kirchenraum. Johanna Hauff sitzt rechts vorne im hölzernen Chorgestühl, sie trägt eine dunkle Bluse und einen langen Rock. Die mittelgroße Frau hat gelocktes, braunes Haar und einen wachen Blick. Gemeinsam mit den Benediktinerinnen und einigen Besuchern feiert sie die Vesper. Wie jeden Abend, seit die 26-Jährige Mitte März ins hessische Kloster Engelthal gezogen ist.
Johanna Hauff ist keine Ordensfrau, sondern gelernte Ergotherapeutin und Freiwillige auf Zeit im Kloster. Nach ihrer Ausbildung und einigen Jahren im Beruf wünschte sie sich eine Auszeit: "Man gibt sehr, sehr viel als Therapeutin. Ich wollte mich orientieren, was ist mir wirklich wichtig, wo möchte ich hin? Und ich wollte in dieser schnelllebigen Zeit bei mir selbst ankommen." Zur gleichen Zeit ging die Beziehung mit ihrem Partner auseinander, mit dem Johanna Hauff einige Jahre zusammengelebt hatte: "Es hat sich dann so ein Freiheitsgefühl eingestellt: Ich kann jetzt wirklich das machen, was ich möchte", erinnert sich die junge Frau aus Göttingen.
Knapp 60 Einsatzorte stehen zur Auswahl
Ihre Mutter brachte sie auf den Gedanken, sich das freiwillige Ordensjahr mal genauer anzuschauen. Eine Initiative, die die Deutsche Ordensobernkonferenz 2019 ins Leben rief. Interessierte im Alter von 17 bis 75 können zwischen einem Viertel- und einem ganzen Jahr ins Kloster gehen. Zurzeit gibt es bundesweit knapp 60 Einsatzorte, darunter die Franziskanerinnen in Kiel, die Vinzentinerinnen in Köln oder die Augustiner in Planegg bei München. Am freiwilligen Ordensjahr beteiligen sich überwiegend Frauenklöster, nur ein Fünftel sind Männerorden.
Johanna Hauff entschied sich für das Benediktinerinnenkloster Engelthal, 30 Kilometer nordöstlich von Frankfurt im hessischen Wetteraukreis gelegen: "Ich wollte gern draußen arbeiten, weil ich als Therapeutin die Sonne nur nach Feierabend gesehen habe." Der weitläufige Klostergarten hat es ihr gleich angetan. Petersilie, Kartoffeln, Tomaten, dazwischen Blumen in allen möglichen Farben – "ein Gesamtorganismus", sagt Johanna Hauff. An ihrem neuen Arbeitsplatz gibt es vom Unkraut jäten bis zur Ernte viel zu tun. Finanziert werden ihre Monate im Kloster über den Bundesfreiwilligendienst – damit sind die Versicherungen und ein kleines Taschengeld abgedeckt.
Begleitet wird die Freiwillige auf Zeit von der Äbtissin des Klosters, Schwester Elisabeth Kralemann. Regelmäßig treffen sich die beiden zu geistlichen Gesprächen. Dann geht es um die berufliche Zukunft von Johanna Hauff oder darum, das Klosterleben zu erklären. "Für uns ist das freiwillige Ordensjahr ein Schritt der Öffnung", sagt Schwester Elisabeth. Früher lebten die Benediktinerinnen abgeschieden in der Klausur. "Jemand, der neu kommt, bringt seine Fragen und Impulse mit, auch aus der Berufswelt", sagt die Äbtissin. "Von daher ist das für uns eine Bereicherung, unser Leben ein Stück hinterfragen zu lassen." Etwa die Psalmentexte, die im Jahr 2022 durchaus erklärungsbedürftig seien. Johanna Hauff ist evangelisch, sie kennt vor allem das Gemeindeleben und die Gottesdienste ihrer Kirche. Keine Frage sei es gewesen, das Hauff nach Engelthal kommen kann, betont Schwester Elisabeth: "Die Ökumene liegt mir sehr am Herzen." Ihr Wahlspruch als Äbtissin lautet: "Eins in Christus."
Zur Abtei gehören neben der Kirche und dem Haupthaus mit seinem Kreuzgang ein Gästehaus mit Zimmern und Gruppenräumen und die barocken Wirtschaftsgebäude mit Scheunen und einer Werkstatt, in der Gemälde und Skulpturen restauriert werden. Nebenan im früheren Novizinnen-Haus wohnt eine geflüchtete Familie. Zurzeit besteht die Gemeinschaft aus 14 Benediktinerinnen, die meisten sind im hohen Alter. Gleichwohl: Um Nachwuchswerbung gehe es nicht beim freiwilligen Ordensjahr, sagt Schwester Elisabeth Kralemann: "Das soll ein ganz offenes Angebot für Frauen und Männer sein, die sich interessieren, im Kloster mit zu leben." Die 73-Jährige ist überzeugt, dass das Leben der Ordensleute sinnvoll ist: "Die Regeln können durchaus auch Menschen etwas sagen, die nicht im Kloster leben." Viele seien erschüttert und verunsichert: durch den Krieg in der Ukraine, die wirtschaftliche Lage, die Energiekrise: "Das sind Dinge, die Menschen ja doch sehr existenziell berühren. Und da können die Klöster Orientierungspunkte für Lebens- und Glaubensfragen sein." Ist das Ordensjahr also eine Form der Flucht vor der Wirklichkeit? Schwester Elisabeth widerspricht: "Man kann sich neue Kraft holen, um dann gestärkt in den Alltag, der nicht besser geworden ist, zurückzukehren."
Johanna Hauff spaziert vom Garten am Hauptgebäude des Klosters vorbei, den Hügel hinauf in Richtung Obstbaumplantage. Im Gras unter den Bäumen hat sie ihren Lieblingsplatz gefunden. Sie zeigt auf den Ostflügel des Schwesterntrakts. Dort unterm Dach ist ihr Gästezimmer mit Dusche und Toilette auf dem Flur: "Mit Blick in den Kreuzgarten und in den Wald. Abends, wenn es dunkel ist, kann man Uhu und Eule hören." Engelthal liegt abgeschieden zwischen Wiesen und Feldern am Waldrand. Bereits im 13. Jahrhundert siedelten sich hier die Zisterzienserinnen an. Zerstört im 30-jährigen Krieg, wurde das Kloster im 18. Jahrhundert im barocken Stil wiederaufgebaut. Im Jahr 1803 endete die mehr als 500-jährige Geschichte des Klosters vorläufig durch den Reichsdeputationshauptschluss von Regensburg. Die Gebäude und der Grund bestanden als Hofgut weiter, ehe im Mai 1962 mit den Benediktinerinnen erneut Ordensschwestern einzogen.
Zwar beteiligen sich auch Gemeinschaften am freiwilligen Ordensjahr, die strengere Regeln haben als die Schwestern in Engelthal. Johanna Hauff hadert trotzdem manchmal mit dem festgelegten Tagesablauf: Beten statt spontan zum Sport gehen, Nachtruhe statt ausschweifender Gespräche an einem lauen Sommerabend. In solchen Momenten merkt sie, wie wichtig ihr Autonomie ist. Zugleich empfindet sie die klaren Regeln als Entlastung: "Im Kloster ist man wirklich auf sich fokussiert. Ich war immer so ein Typ, die in allen möglichen Situationen gerne Musik gehört hat. Ich habe aber gemerkt, dass ich einfach Ruhe gebraucht habe." Hätte Johanna Hauff eine Weltreise oder 'Work and Travel' gemacht, wäre sie mit vielen Eindrücke zurückgekehrt. "Aber ich glaube, ich wäre dann nicht an diesem Ruhepunkt angekommen."
Zurück ins weltliche Leben
Im Kloster geblieben ist Johanna Hauff nicht. Vor einigen Tagen hat sie ihren neuen Job in einer Wohngruppe für Menschen mit Behinderung angefangen. Nebenberuflich will sie sich auf Erlebnispädagogik und Pflanzenheilkunde spezialisieren. In ihren Alltag habe sie Ruhe und Gelassenheit mitgenommen. Und eine Erkenntnis mit Blick auf ihren künftigen Lebensentwurf: "Die Freiheit, selbstbestimmt zu leben, ist wirklich ein großer Schatz."