"Im Kopf evangelisch und im Herzen katholisch"
Die Orgel erklingt. Henriette Crüwell schreitet in die Kirche, hinter ihr das Brautpaar. Als das Lied "Lobet den Herren" beginnt, wendet die Pfarrerin sich den Hochzeitsgästen zu. "Ich weiß, dass das in der evangelischen Kirche nicht so üblich ist, aber zum Lob Gottes kann man auch einmal aufstehen", sagt sie. Lachend erhebt sich die Gemeinde. Dass die 51-jährige Offenbacherin heute ein Brautpaar trauen würde, war früher nicht absehbar. Denn ursprünglich war Crüwell katholisch. Heute ist sie evangelische Pfarrerin und arbeitete zuletzt in der Friedenskirche in Offenbach. Seit dem 1. September hat sie nun eine neue Aufgabe: Pröpstin für Rheinhessen und das Nassauer Land.
Für die Hochzeit und eine Taufe ist sie noch einmal an ihre alte Wirkungsstätte zurückgekehrt. Etwa eine halbe Stunde bevor die Trauung beginnt, lädt sie mich ein, in ihrem ehemaligen Büro gleich unter der Kirche Platz zu nehmen. An der Wand stapeln sich Umzugskartons, die Regale sind leergeräumt, auf dem Schreibtisch liegen Briefe und ihre Predigtmappe. Am Fenster lehnt ein Kreuz. Daneben stehen ein Nutellaglas und ein Lampenschirm, davor ein schlichter Ambo, der bei Bedarf draußen genutzt werden kann. Crüwell lässt sich in einen grauen Ohrensessel fallen. Die Konfessionen zu vereinen, das spielte für sie schon immer eine Rolle. "Mein Großvater stammte aus einer katholischen Winzerfamilie aus der Pfalz, meine Großmutter aus einer evangelischen Pfarrerdynastie", erzählt sie. "Da war in jeder Generation mindestens einer der Männer Pfarrer oder die Frauen haben einen Pfarrer geheiratet. Nur in der Generation meiner Mutter war keine Theologin." Grinsend ergänzt sie: "Ich bin da familiär vorbelastet."
Die Freude der Nonnen begeisterte sie
Mit 14 Jahren bekam sie vom Vater eine Reise nach Rom geschenkt. "Am Ostersonntag saßen wir im Petersdom in einer Gruppe Nonnen", erzählt sie. "Die haben so eine Freude ausgestrahlt, dass ich dachte: Das will ich auch!" Dass sie für ein Leben hinter Klostermauern nicht gemacht war, merkte sie bald, doch die Theologie ließ sie nicht los. Aber was konnte sie tun als Frau in der katholischen Kirche? Crüwell nimmt einen Schluck Wasser, ihr Blick wird ernst.
In der katholischen Kirche dürfen ausschließlich Männer zu Priestern geweiht werden. Im Jahr 1994 bekräftigte Papst Johannes Paul II. dies in seinem Schreiben "Ordinatio Sacerdotalis". Unter Rückbezug darauf beharrt auch Franziskus heute auf einem Nein zur Frauenweihe. Schon lange wird darüber diskutiert, ob der Ausschluss der Frauen von Weiheämtern theologisch gerechtfertigt ist, und verschiedene Initiativen und Frauenverbände in Deutschland setzen sich für mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Kirche ein. Auch einige Bischöfe halten die Frauenweihe mittlerweile für möglich. Jüngst wurde beim deutschen Reformprozess Synodaler Weg ein Text zur Gleichberechtigung von Frauen verabschiedet, der dafür plädiert, die Entscheidung, Frauen vom Weiheamt auszuschließen, zu überprüfen. In viele anderen Ländern, beispielsweise Belgien, Spanien und Irland, wird die Frage nach dem Frauenpriestertum in den laufenden weltweiten synodalen Prozess hineingetragen.
Als Crüwell jünger war, war das beinahe unvorstellbar. Dennoch war ihr Wunsch, Priesterin zu werden, so groß, dass sie an Kardinal Karl Lehmann, ihren damaligen Bischof, nach Mainz und an Papst Johannes Paul II. nach Rom schrieb. Eine Antwort erhielt sie aus der päpstlichen Nuntiatur. "Der Heilige Vater sende mir und meiner Familie seinen Segen. Ich möge mir doch bitte einen geeigneten Beichtvater suchen, der mit mir die Frage erörtert, warum Frauen nicht Priester werden können", zitiert Crüwell aus dem Brief. Sie fährt sich durch die Haare. Bei einen Weihnachtsspaziergang habe ihr Vater ihr geraten: "Wenn du etwas in der Kirche verändern willst, musst du Jura studieren." An den Rat hielt sie sich zunächst. Sie lernte ihren Mann kennen, heiratete mit 23 Jahren, legte das erste juristische Staatsexamen ab, ging ins Referendariat, bekam drei Kinder.
"Im Erziehungsurlaub mit dem dritten Kind saß ich dann in einer falschen Straßenbahn. Da stand ich plötzlich vor der Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt", erzählt Crüwell. Spontan ging sie in die Bibliothek, um nach einem Taufspruch für ihr jüngstes Kind zu suchen, und stieß dort auf das frischgedruckte Vorlesungsverzeichnis. "Das fand ich total spannend", sagt sie mit leuchtenden Augen. Wenige Minuten später war sie als Gasthörerin an der Philosophisch-Theologischen Hochschule eingeschrieben. Neben dem zweiten juristischen Staatsexamen machte sie ihr Diplom in Theologie und begann, am Institut für Christliche Gesellschaftsethik in Frankfurt zu arbeiten.
Erst alt-katholisch, dann evangelisch
Auf der Suche nach einem geeigneten Kindergottesdienst für ihre Kinder fand Crüwell zunächst zur alt-katholischen Kirche, in der auch Frauen geweiht werden. Am Ende ihres Theologiestudiums schlug ihr der damalige Bischof der deutschen Alt-Katholiken vor, bei ihnen ins Vikariat zu gehen. 2006 ließ sie sich zur Priesterin weihen, 2009 wurde sie zur Pfarrerin gewählt. "Die Entscheidung, in die alt-katholische Kirche zu gehen, war schwer", räumt Crüwell ein. "Da haben sich auch Menschen von mir abgewandt." Ganz angekommen aber fühlte sie sich noch nicht. Die Machtstrukturen, die starke Trennung zwischen Klerus und Laien, störten sie.
Sie kam in Kontakt mit der evangelischen Kirche im Rheinland. "Ich habe dann festgestellt, dass ich vom Kopf her eigentlich schon evangelisch ticke", sagt sie. Zentral sei für sie das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen, wie es in der evangelischen Kirche gelebt wird. Aber auch die Erfahrung von Körperlichkeit, von Ganzheitlichkeit, die sie aus der katholischen Liturgie kennt, bleiben ihr wichtig. "Ich musste verstehen, dass auch die evangelische Kirche so bunt ist, dass es auch dort Leute gibt, die eine ganzheitliche Liturgie schön finden", sagt sie. Sie konvertierte erneut und begann 2014 eine Probezeit in der evangelischen Landeskirche. 2016 kam sie nach Offenbach. Fünf Jahre lang war sie dort Pfarrerin der Friedenskirche, bis sie nun zur Pröpstin der Region Rheinhessen und Nassauer Land gewählt wurde.
Es klopft an der Tür. "Ich komme!", ruft Henriette Crüwell und springt auf. Sie hat noch knappe zehn Minuten, bis die Trauung beginnt. Schnell streift sie sich den Talar über das dunkelblaue Hemdkleid. Zur Kirche geht es einmal die Treppe hoch, fröhlich grüßend durch die Hochzeitsgäste hindurch. Die Kerzen im Altarraum zündet sie selbst noch rasch an, dann setzt schon die Orgel ein. Crüwell ist anzusehen, dass sie sich im Altarraum wohlfühlt. Unaufgeregt gleitet sie durch die Trauung, entlockt der Gemeinde immer wieder ein Lachen. Das Brautpaar fühlt sich wohl, die Gäste ebenfalls.
Crüwell ist beliebt in Offenbach. "Sie hat Fröhlichkeit und Feierlichkeit mitgebracht", erzählt Dominique Itzel. Der 21-Jährige ist Küster und Mitglied im Kirchenvorstand. Besonders für die Familien habe sie sich eingesetzt, die Kinder mehr in die Kirche gebracht. Dass sie mal katholisch war, das merke man allerdings schon an ihrem "katholischen Stil" im Gottesdienst. "Zum Beispiel im Advent, da hat sie einmal Weihrauch mitgebracht." Er lacht. Auch Andreas, Max und Maxi erzählen: "Sie denkt nicht altmodisch, sondern zukunftsorientiert." Die drei sind gerade frisch konfirmiert worden. Ob man ihr die katholische Prägung noch anmerkt? "Nee." Charlotte schüttelt den Kopf. Ihre Mutter Ilka widerspricht. "Ein paar Versätze der katholischen Kirche sind schon eingeflossen."
Henriette Crüwell liebt den Pfarrberuf wegen seiner Vielfalt. "Religionsunterricht in der Schule, Gottesdienste im Seniorenwohnheim, Beerdigungen, Taufgespräche, Konfirmationsvorbereitung, abends Sitzungen mit dem Kirchenvorstand", zählt sie auf. Wir sitzen erneut in den grauen Sesseln ihres ehemaligen Büros. Von draußen klingen anstoßende Sektgläser und heiteres Lachen hinein. Sie liebe es zu predigen und zu feiern. "Partys natürlich, aber auch Gottesdienste. Das ist ja eine zivilisierte Art von Party", lacht sie. Das Sinnliche aus der katholischen Liturgie fehle ihr heute durchaus. "Ein katholischer Gottesdienst, das ist ja ein großer Tanz. Die vielen Leute im Altarraum, die bunten Gewänder." Diese Traditionen in der evangelischen Kirche einzubringen, das ginge nicht überall. "Der Gottesdienst ist der Gottesdienst der Gemeinde und wenn die Gemeinde etwas nicht tun will, dann machen wir das eben nicht", betont sie. Dennoch sei in Offenbach einiges möglich gewesen. "Prozessionen, eine Osternacht mit allem, was dazu gehört. Da machen die Leute auch mit."
"Ich spreche beide Sprachen, katholisch und evangelisch"
Als Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Offenbach engagiert sich Crüwell auch für die Ökumene. "Ich spreche beide Sprachen, katholisch und evangelisch, das kommt mir da gut", sagt sie. Sie wisse, wie Katholiken ticken. Ihr kommt ein Zitat von Fulbert Steffensky in den Sinn, der ehemalige Benediktinermönch hat einen ähnlichen Weg hinter sich: "Ich bin im Kopf evangelisch und im Herzen katholisch."
Was in der katholischen Kirche heute passiert, das beschäftigt sie weiterhin. "Ich freue mich über den Synodalen Weg", sagt sie. "Aber ich habe die Sorge, dass durch den römischen Zentralismus diese Pflanze ausgerupft wird." Sie macht eine Pause. "Als ich entschieden habe, die Kirche zu wechseln, da sind viele meiner Freunde überzeugte Katholiken gewesen. Aber gerade die gehen jetzt. Und die wechseln nicht die Kirche, sondern die gehen ganz." Wieder der ernste Blick. "Als Kirche müssen wir uns immer wieder fragen: Wo will Gott uns haben?" Ihre Antwort darauf: "Unsere Aufgabe als Christinnen und Christen ist es, dafür einzustehen, dass wir ein Morgen haben, und im Licht der Zukunft die Welt zu gestalten."
Zwei Stunden später hat sich die Hochzeitsgesellschaft verabschiedet und die Vorbereitungen für die nächsten Feierlichkeiten laufen schon: Gleich wird getauft. Der Pfarrgarten verwandelt sich in eine Kirche: ein Altar aus Stein steht dort und der Ambo, der zuvor noch in ihrem Büro stand, Stühle werden aufgestellt. Im Hintergrund ist ein Klettergerüst zu sehen, zwischen den Stimmen hört man das Gackern der Hühner, die zum Pfarrgarten gehören. Junge Familien und Großeltern füllen die Reihen. Schlicht beginnt Crüwell die Feier. "Schön, so viele bekannte Gesichter zu sehen", sagt sie und setzt sich zum ersten Lied in die Reihen der Gemeinde. Ganz evangelisch.