Knackpunkt Geschlechtsidentität: Für eine Dualität ohne Polarität
Die Ablehnung des Grundtextes zur Sexualethik auf der Vierten Vollversammlung des Synodalen Weges am 8. September hat zu erregten Reaktionen und Wortmeldungen geführt. Die Enttäuschung war gewaltig, als feststand, dass nicht genügend Bischöfe zugestimmt hatten. Die verweigerte Annahme der Vorlage des Synodalforums IV wurde vor allem als verweigerte Anerkennung der Würde und Rechte sexueller Minderheiten aufgenommen. Wer das Dokument nicht befürwortet habe, so die Vorhaltung, scheue sich, der Diskriminierung von queeren Lebensweisen in Kirche und Gesellschaft entgegenzutreten.
Inzwischen haben sich Bischöfe, die nicht mit Ja gestimmt haben, zu Wort gemeldet, zuletzt der Bischof von Rottenburg-Stuttgart, Gebhard Fürst. Er begründet seine Entscheidung damit, dass es dem Grundtext nicht gelungen sei, die Frage der menschlichen Geschlechtlichkeit hinreichend differenziert darzulegen. Die biologisch-wissenschaftliche Sichtweise komme zu kurz. Dieses Argument wiegt schwer. Denn im Unterschied zu manch anderen, die die Vorlage vermutlich abgelehnt haben, weil sie homosexuelle oder queere Lebensweisen grundsätzlich für unmoralisch halten, verweist Bischof Fürst legitimerweise auf die Frage, was sich wissenschaftlich verantwortet über Männlichkeit und Weiblichkeit sagen lässt. Ob eine mögliche Uneindeutigkeit der Vorlage des Synodalforums Grund genug ist, sie in Gänze scheitern zu lassen, sei dahingestellt.
Was also steht im Grundtext? Die entscheidende Passage, die wohl einige dazu verleitet hat, Widerspruch durch das Abstimmungsverhalten zu artikulieren, lautet: "Neben der sexuellen Orientierung umfasst die Sexualität auch die Geschlechtsidentität. Auch diese entwickelt sich in einem komplizierten biopsychosozialen Prozess. Selbst das, was gewöhnlich als biologische Geschlechtszugehörigkeit bezeichnet wird, die 'auf den ersten Blick' üblicherweise anhand der äußeren Geschlechtsmerkmale eines Menschen als 'weiblich' oder 'männlich' festgemacht wird, verdankt sich ihrerseits eines komplexen Prozesses, in dem schon genetische wie epigenetische Faktoren zusammenwirken und gleichsam aus sich heraus Varianten des biologisch Geschlechtlichen ergeben. Damit legen sie die Grundlage für einen Facettenreichtum der biopsychosozialen Geschlechtsidentität, deren mögliches Spektrum über (sic!) die Deutungsvarianten 'männlich' und 'weiblich' sprengt. So lässt sich in einigen Fällen bereits das biologische Geschlecht nicht binär festlegen (…)" (Seite 12f.).
Argument für Bedenken
Diese Sätze sind in der Tat geeignet, denjenigen, die sich mit der Akzeptanz sexueller Vielfalt schwertun, ein Argument für ihre Bedenken zu liefern. In der zuweilen sehr gereizten Debatte um die menschliche Geschlechtsidentität wurde eine Chance vertan, ein Angebot zur Verständigung zu unterbreiten. Meines Erachtens fädelt der Text die Thematik dadurch falsch ein, dass er Geschlecht pointiert als das Resultat einer Entwicklung betrachtet. Um sofort berechtigten Einwänden zu begegnen: Selbstverständlich ist Geschlechtlichkeit im Sinne der sexuellen Orientierung (hetero-, homo- oder bisexuell) oder der vom Individuum empfundenen Geschlechtsidentität (Phänomen der Transsexualität) Ergebnis eines hochkomplexen Zusammenwirkens verschiedener Faktoren. Darüber besteht heute wissenschaftlicher Konsens. In dieser Hinsicht geht es tatsächlich um einen Entwicklungsprozess. Und um auch das klar zu sagen: Die ethische Bewertung der Handlungen queerer Personen kann nicht davon abhängig gemacht werden, dass es sich, wie im Falle der Homosexualität, um eine naturgegebene Normvariante handelt, die in der Minderheit ist. Hier gilt schlicht und einfach: "Selten heißt schließlich nicht seltsam oder monströs. Selten heißt nur selten" (Carolin Emcke). Das heutige Wissen über die Entwicklung der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität verbietet es, wie in der kirchlichen Vergangenheit geschehen, die betroffenen Personen generell zu pathologisieren, ihre intimen Beziehungen moralisch zu ächten oder sie im staatlichen und kirchlichen Recht zu diskriminieren.
Zugleich, dieser Aspekt scheint mir im Grundtext unter den Tisch zu fallen, lässt sich nicht bestreiten, dass aus evolutionsbiologischer Sicht Geschlecht so definiert wird, dass von zwei Geschlechtern gesprochen wird. Die menschliche Spezies zählt zur Gattung der Lebewesen, die sich auf zweigeschlechtliche Weise fortpflanzen. Grundlage ist die Tatsache der menschlichen Reproduktionsstrategie, die auf zwei verschiedenen Keimzellen beruht. Auf dieser biologischen Betrachtungsebene kann weiterhin von zwei Geschlechtern mit typischen Merkmalen ausgegangen werden; auch wenn diese Merkmale nicht von jedem Individuum auf die gleiche Weise verwirklicht werden. Es gehört ebenfalls zur Natur der menschlichen Art, wie wir immer besser erkennen, dass es Variationen und Zwischenformen in der sexuellen Entwicklung, der sexuellen Orientierung und in der Geschlechtsidentität gibt – sowie das Phänomen der Intersexualität, das als solches mit seiner geschlechtlichen Uneindeutigkeit jedoch nicht die Zweigeschlechtlichkeit im oben definierten Sinne dementiert (vgl. den vielbeachteten Aufsatz von Claire Ainsworth, Sex redefined, in: Nature Vol. 518, 19.02.2015, S. 288-291). Es gilt eben beides: Es gibt zwei Geschlechter; und es gibt das männliche und das weibliche Geschlecht in Variationen, die hinsichtlich einer Vielzahl an Merkmalen ein Kontinuum, ein Spektrum zwischen männlich und weiblich bilden. Binarität und Vielfalt bzw. Uneindeutigkeit schließen sich nicht aus. "Drittes Geschlecht" ist ein als Behelf in gesellschaftspolitischen Kontexten möglicher, wenn auch biologisch vielleicht missverständlicher Begriff. Man sollte also vorausschicken, welchen Aspekt man im Sinn hat, wenn man von Geschlecht spricht. Sonst droht die Gefahr, aneinander vorbeizureden.
Keine Antwort mit der Heiligen Schrift
Der biblischen Aussage, wonach Gott den Menschen als Mann und Frau, oder männlich und weiblich, geschaffen hat, ist nicht zu unterstellen, sie wisse bereits das, was wir heute über die menschliche Sexualität wissen. Mit der Heiligen Schrift lässt sich die Frage nicht beantworten, wie gattungs- oder individualspezifisch Geschlecht zu definieren ist und in welchem Maße kulturelle Vorstellungen in unser Verständnis von Weiblichkeit und Männlichkeit hineinwirken. Es steht auch nicht die christliche Anthropologie zur Disposition, wenn wir heute über Geschlecht differenzierter sprechen als frühere Generationen. Ganz im Gegenteil. Es ist eine Stärke christlicher Anthropologie, die Freiheit der Person zu ehren, die sich fragen kann, wie sie mit ihrem geschlechtlichen Dasein, das sie nicht frei gewählt hat, verantwortlich umgehen soll. Für den biblischen Gott zählt die sittliche Praxis mehr als ein faktisches körperliches Vermögen oder Unvermögen. "Der Eunuch soll nicht sagen: Sieh, ich bin ein dürrer Baum. Denn so spricht der HERR: Den Eunuchen, die meine Sabbate halten, die wählen, was mir gefällt und an meinem Bund festhalten, ihnen gebe ich in meinem Haus und in meinen Mauern Denkmal und Namen. Das ist mehr wert als Söhne und Töchter" (Jes 56,4f.).
Die Anerkennung von Binarität (im dargelegten evolutionsbiologischen Sinne) bedeutet nicht, dass die alten Moralvorstellungen weiterhin gelten, die von einer vermeintlich starren Polarität männlicher und weiblicher Wesensnaturen ausgehen. Dies gilt zumal für die Sexualethik. So ist die Homosexualität "jene Zone der Erotik", sagte vor genau einhundert Jahren Thomas Mann, "in der das allgültig geglaubte Gesetz der Geschlechterpolarität sich als ausgeschaltet, als hinfällig erweist". Die biologischen und anatomischen Merkmale des eigenen Körpers erzwingen in sexualethischer Hinsicht nicht die Wahl des Geschlechtspartners/der Geschlechtspartnerin. Genau für diese Einsicht hat sich im letzten halben Jahrhundert der Begriff Gender etabliert. Es gibt mehr Arten Mensch zu sein, als sich eine Gesellschaft vorstellen kann, die Varianten als nonkonform tabuisiert. Wer diesen moralischen Fortschritt als Genderideologie attackiert und damit sprachliche Gewalt ausübt, der will am Ende Menschen dazu verdammen, sich anatomischen Eigenschaften ihres Körpers zu unterwerfen, anstatt ihre menschlichen Empfindungen zu würdigen. Die theologische Variante dieser Fixierung auf Anatomie besteht in der Behauptung, nur die gegenseitige Ergänzung weiblicher und männlicher Körper könne das Verhältnis Gottes zu den Menschen repräsentieren und daher sakramental genannt werden (vgl. zuletzt Stefan Oster, Realpräsenz, Sakramentalität und der Synodale Weg in Deutschland, in: IkaZ Communio 51, 2022, 431-450). Das letzte Konzil bietet eine andere Theologie: "In dieser Offenbarung redet der unsichtbare Gott aus überströmender Liebe die Menschen an wie Freunde und verkehrt mit ihnen, um sie in seine Gemeinschaft einzuladen und aufzunehmen" (Dei Verbum Nr. 2). Wer würde wagen festzustellen, nur heterosexuelle Beziehungen könnten Bild dieses Freundschaftsverhältnisses sein?