Wieder ein Kardinal demontiert – und elf Bischöfe im Visier

Frankreichs Kirche in der Missbrauchs-Dauerschleife

Veröffentlicht am 12.11.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Paris ‐ Es ist eine weltweite Seuche, ein Geschwür mit Langzeitfolgen: Auf unterschiedliche Weisen versuchen nationale Bischofskonferenzen, sich aus dem Missbrauchssumpf zu ziehen. Kaum irgendwo misslingt es so wie in Frankreich.

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Es wird niemals enden, mag man denken, wenn man auf die Kirche in Frankreich schaut. Schon wieder ein Bischof mit Missbrauchs-Geschichte, ein Kardinal sogar – und insgesamt elf Bischöfe im Visier staatlicher oder kirchlicher Untersuchungsbehörden. Überall auf der Welt fällt der katholischen Kirche auf die Füße, womit viel zu viele Einzeltäter und ihre Vorgesetzten über Jahrzehnte das wichtigste Kapital des Christentums – Vertrauen – verspielt haben: sexueller Missbrauch und der Umgang damit.

Auf unterschiedliche Arten und Weisen versuchen nationale Bischofskonferenzen, der Krise Herr zu werden: In vielen Ländern zieht man noch den Kopf ein und hofft, der Sturm werde vorüberziehen. In Österreich etwa packte man schon frühzeitig landesweit möglichst alles auf den Tisch – und hat das furchtbare Kapitel seither leidlich abgeregelt. In Deutschland erarbeitet jedes einzelne Bistum für sich Studien und Gutachten – mit dem Ergebnis, dass das Thema Jahr für Jahr jede Woche wieder irgendwo neu aufpoppt; mit den immergleichen Reflexen und Frustrationen.

In Frankreich läuft es noch anders – und so schlecht wie wohl kaum irgendwo sonst: Eine riesige unabhängige nationale Untersuchung hatte man in Auftrag gegeben. Das Resultat war vor einem Jahr der sogenannte Ciase-Bericht, der verheerende, weil von bekanntgewordenen Fällen auf eine vermeintliche Dunkelziffer hochgerechnete, Fallzahlen mitteilte; nebst umfassenden, sehr konkreten Reformforderungen der Gutachter an die Bischöfe. Eine öffentliche Demütigung. Die Schockwelle reichte über ganz Europa bis in den Vatikan – wo man argwöhnte, Frankreichs Episkopat habe sich mit der Untersuchungskommission und ihren Methoden selbst in den Fuß geschossen.

Vatikan plant eine eigene Untersuchung

Hinzu kommen – erst recht mit den neuen Mitteilungen vom Montag – immer neue tatsächliche oder vermeintliche Skandale um einzelne Bischöfe. Elf frühere oder noch amtierende Hirten stehen unter Verdacht: Das kann man getrost als neuerliche Schockwelle bezeichnen. Was sich Kardinal Jean-Pierre Ricard (78), früherer Erzbischof von Bordeaux, konkret vorzuwerfen hat, ist auch Tage danach nicht genauer bekannt. Von einem "sexuellen Übergriff" schreiben gut unterrichtete Kirchenexperten. Ricard selbst verriet in seiner öffentlichen Erklärung lediglich, er habe sich wegen "verwerflichen Verhaltens" gegenüber einer damals 14-Jährigen selbst bei der Bischofskonferenz angezeigt. Auch die Staatsanwaltschaft ist inzwischen eingeschaltet, der Vatikan plant eine eigene Untersuchung des Falls

Der Vorfall spielte sich demnach vor 35 Jahren ab, als Ricard als Pfarrer in Marseille arbeitete. Nicht wahrscheinlich ist, dass in den kommenden Tagen weitere pikante Details dazu bekannt werden – zumal sich der frühere Episkopatsvorsitzende gleichzeitig mit seiner Selbstanzeige in eine Auszeit "in Rückzug und Gebet" verabschiedete. Auch sein amtierender Nachfolger in der Bischofskonferenz, Erzbischof Eric de Moulins-Beaufort, verriet wenig Details zu den Vorwürfen gegen "die Elf". Einige Namen sind bekannt, andere nicht. Das nährt Befürchtungen, dass es im Zuge der Enthüllungen noch weitere Bombeneinschläge geben dürfte.

Bischöfe auf einem Platz
Bild: ©Bruno Levy/CIRIC/KNA

Auch bei der Herbstvollversammlung der französischen Bischöfe in Lourdes war der sexuelle Missbrauch ein Thema.

Was Papst Franziskus zusätzlich bekümmern muss: Erneut erweist sich einer seiner Senatoren als menschlich sehr fehlbar. Zwar bezeichnet der "Papst von den Rändern" das Kardinalskollegium nicht, wie es noch Benedikt XVI. (2005-2013) tat, als "seine Freunde". Doch bei jeder Neuernennung schärft er seinem Beratergremium ein, aus welchem Priesterholz ein echter Kardinal geschnitzt sein muss.

Die gefallenen Engel der Weltkirche sind inzwischen Legion. Und auch in Frankreich forderte die Enthüllungswelle sehr prominente Opfer: Philippe Barbarin (72), als Erzbischof von Lyon "Primas Galliens", wurde nach jahrelangen Prozessen wegen angeblicher Vertuschung zwar letztlich freigesprochen; sein Ruf und seine Nerven waren jedoch am Ende so ramponiert, dass Franziskus seinen Amtsverzicht 2021 annahm und den Kardinal als Seelsorger in die Provinz ziehen ließ.

Und der Pariser Erzbischof Michel Aupetit (71) blieb gar nicht lang genug im Amt, um den Kardinalshut bekommen zu können. Ihm wurde von den Medien eine Frauengeschichte nachgesagt – und der Papst nahm ihn (ziemlich übereilt) aus der Schusslinie.

Missbrauch auch Thema der Vollversammlung in Lourdes

Und erst vor einigen Wochen wurde bekannt, dass der frühere Bischof von Creteil, Michel Santier (75), wegen Machtmissbrauchs zu sexuellen Zwecken bereits vor mehr als einem Jahr vom Vatikan mit Strafmaßnahmen belegt worden war. Zusätzlich machte die Menschen in den betreffenden Bistümern wütend, dass damals niemand über den Vorgang informierte: weder der Täter noch die Bischofskonferenz noch der Vatikan. Die Argumentation: Die Opfer des Bischofs hätten ausdrücklich keine Öffentlichkeit für ihren Fall gewünscht.

Das Thema sexueller Missbrauch stand daher – einmal mehr – im Zentrum der Vollversammlung der französischen Bischöfe im Marienwallfahrtsort Lourdes. Ungemütlich dürfte es am Fuß der Pyrenäen und zu den Füßen der Gottesmutter zugegangen sein. "Erschüttert und entschlossen" lautet der Titel einer Botschaft, die die Bischofskonferenz am Dienstag veröffentlichte. "Aufgrund der Natur ihres apostolischen Amtes sind die Bischöfe direkt vom Heiligen Stuhl abhängig", heißt es darin. Die Bischöfe wollen sich demnach aber auch verpflichten, mit dem Heiligen Stuhl zusammenzuarbeiten, um die Fälle aufzuklären. 

Im Vatikan dürfte man dem Tun – und dem Lassen – in Frankreich inzwischen recht ratlos gegenüberstehen. An römischen Maßnahmen und Bischofs-Neuernennungen für die "älteste Tochter der Kirche" jedenfalls war in den vergangenen Monaten kein Mangel. Und bei den römischen Überprüfungen ("Visitationen") in Toulon oder Straßburg ging es noch nicht mal um Missbrauch, sondern um bischöflichen Führungsstil, um die Qualität der Priesterausbildung, um Traditionalismus. Einstweilen scheint Frankreichs Kirche noch nicht aus ihrem Albtraum erwachen zu können. (cbr/KNA)