Theologin Wustmans: Wie spirituelle Autonomie Missbrauch vorbeugt
In der Kirche wächst derzeit das Bewusstsein dafür, dass bei vielen Missbrauchsfällen zuvor durch die Täter eine Manipulation der Betroffenen im Bereich der Spiritualität stattgefunden hat. Diesen geistlichen Missbrauch zu verhindern, hat sich eine Tagung, die heute in Frankfurt am Main beginnt, auf die Fahnen geschrieben – und widmet sich damit einem Thema, das in der Kirche bislang kaum behandelt wurde. Bei der unter anderem vom Bistum Limburg geplanten Veranstaltung geht es laut Titel um die "Förderung der spirituellen Autonomie". Die Theologin Hildegard Wustmans leitet das Dezernat Pastorale Dienste der Diözese Limburg und verantwortet die Tagung. Im Interview gibt sie einen Einblick in die Thematik.
Frage: Frau Wustmans, Sie veranstalten im Bistum Limburg eine Tagung zur "Förderung der spirituellen Autonomie". Was ist mit dem Begriff "spirituelle Autonomie" gemeint?
Wustmans: Dieser Begriff macht meiner Meinung nach deutlich, dass Spiritualität in der persönlichen Erfahrung des Glaubens begründet ist. Spirituelle Autonomie ist ein wesentlicher Baustein beim Aufbau und der Pflege einer persönlichen Gottesbeziehung. Sie ermöglicht, das eigene Leben zu deuten und vor diesem Hintergrund bisweilen gewichtige existentielle Entscheidungen zu treffen. Spiritualität ist ein Prozess der Sinnstiftung, der selbstbestimmt erfolgen sollte. Es geht immer wieder darum, diesen gestifteten und gefundenen Sinn ins eigene Handeln zu übertragen. Der Begriff spirituelle Autonomie wurde in besonderer Weise von Doris Reisinger geprägt. Vor dem Hintergrund ihrer Lebenserfahrung zeigt sie auf, warum spirituelle Autonomie so wichtig ist.
Frage: Die Beschäftigung mit dem Thema erfolgt also vor dem Hintergrund der Fälle geistlichen Missbrauchs, die in der Kirche bekannt geworden sind?
Wustmans: Ganz genau. Im Bistum Limburg gab es das Projekt "Betroffene hören, Missbrauch verhindern" als Folge der MHG-Studie. Aus diesem Projekt mit mehreren Gruppen und etwa 70 Expertinnen und Experten, teilweise auch von außerhalb der Kirche, haben wir uns neben der sexualisierten Gewalt auch mit geistlichem Missbrauch auseinandergesetzt.
Frage: Welche Kennzeichen hat geistlicher Missbrauch? Führt er immer zu sexualisierter Gewalt?
Wustmans: Das ist keine automatische Folge, aber die MHG-Studie zeigt, dass spiritueller Missbrauch auch eine Vorstufe von sexuellem Missbrauch sein kann. Geistlichen Missbrauch erkennt man an einer Spiritualität, die nicht positiv und lebensbejahend ist. Sie dient nicht der Bewältigung des Lebens, sondern macht die Person klein, die auf Suche nach Spiritualität ist. Deshalb muss eine solche Spiritualität zurückgewiesen werden. Außerdem sind Muster der Geistlichen Begleitung mehr als fragwürdig, die mit binären Kodierungen arbeiten. Beispiele dafür sind etwa Denkmuster, wie "Du bist drin, die anderen sind draußen" oder "Du bist begnadet, die anderen sind es nicht". Solche Aussagen führen in eine spirituelle Enge, erzeugen Druck und wirken zugleich ausgrenzend. Damit geht ein Zwischenraum verloren, der dazu dient, Spannungen wahrzunehmen, bisweilen auszuhalten, an sich zu arbeiten.
Frage: Welche Bedeutung kommt hierbei der Geistlichen Begleitung zu?
Wustmans: In spirituellen Prozessen kommt Geistlichen Begleiterinnen und Begleitern eine wichtige Aufgabe zu. In einem gesunden Setting haben wir es hier mit einer Dreiecksbeziehung zu tun: die zu begleitende Person, den Begleiter oder die Begleiterin und Gott. In übergriffigen Begleitungssituationen wird diese Dreiecksbeziehung binär kodiert. Dann gibt es nur noch die zu begleitende Person und die Geistliche Begleitung, die an die Stelle Gottes tritt. Hierbei handelt es sich um eine fatale Verwechslung von geistlichen Personen mit der Stimme Gottes. Das ist eine unheilvolle Machtbeziehung, denn dem Begleiter oder der Begleiterin kommt auf diese Weise eine Position zu, die sie nicht haben sollte: Sie begünstigt Missbrauch und eben auch sexualisierte Gewalt.
Frage: In der christlichen Spiritualität gibt es Begriffe wie etwa den Gehorsam, die leicht missverstanden werden und die Macht einer Person über eine andere herstellen können. Wie kann ein guter Umgang damit gelingen?
Wustmans: Hier ist die Frage, worauf ich die Notwendigkeit des Gehorsams lenke. Muss ich dem geistlichen Begleiter, der Begleiterin gehorsam sein? Muss ich Gott gehorsam sein? Wir als Christinnen und Christen glauben an die Menschwerdung im doppelten Sinn. Gott wird Mensch und unsere Menschwerdung ist nicht mit dem Tag unserer Geburt erledigt, sondern ein lebenslanger Prozess. Dabei geht es auch darum, sozusagen gegenüber sich selbst gehorsam zu sein, immer mehr ich selbst zu werden, die oder der ich vor Gott werden soll. In diesem Zusammenhang kann es notwendig sein, bestimmte Erwartungen mit Ungehorsam zu beantworten. Dazu braucht es starke und kritische Subjekte, die in einem guten Sinn auch die geistliche Begleitung immer wieder herausfordern.
Frage: Ist diese Sichtweise nicht etwas einseitig? Denn Kleriker versprechen ihrem Bischof bei der Weihe Gehorsam, Ordensleute ihren Oberen bei der Profess. Gehorsam gilt in der christlichen Spiritualität nicht nur Gott oder dem eigenen Gewissen gegenüber.
Wustmans: Wer als Leitung nur noch auf den Gehorsam anderer appellieren kann, hat schon längst verloren. Es gibt eine treffliche Unterscheidung zwischen auctoritas und potestas. Potestas ist Macht, die ich aufgrund einer Funktion, eines Amtes habe. Bei der auctoritas ist es so, dass die, mit denen eine Leitungsperson zusammenarbeitet, diese autorisieren. Nur in einem solchen Zusammenhang kann man für alle gewinnbringend leiten. Es geht nicht darum, etwas anzuordnen, etwas zu fordern, sondern darum, etwas mit Autorität zu tun, das heißt mit Wissen, mit Vermittlungsfähigkeit und mit der Sichtbarkeit, dass das, was ich vermittle auch von mir selbst umgesetzt wird. Darin liegt die Zustimmung begründet, die für Autorität sorgt. Wenn ich als geistliche Begleitung, als Bischof oder als Ordensobere in diesem Sinn meine Leitungskompetenz verstehe, ist das ein Schutzschild gegen Missbrauch.
Frage: Mit Ihrer Tagung möchten Sie spirituelle Autonomie fördern. Wie geht das?
Wustmans: Es ist von immenser Bedeutung, sich eine eigene Glaubensidentität zu erarbeiten. Dabei sind intellektuelle Auseinandersetzung und Übung wichtig. Für diese beiden Bereiche ist es bedeutsam, im Austausch mit anderen zu stehen, sich von ihnen inspirieren zu lassen. Das alles muss aber ohne Zwang, aus Neugierde und Interesse geschehen. Am Anfang der eigenen Glaubensidentität steht meiner Meinung nach eine Frage oder eine Suche, also ein kritischer Geist, der nach mehr fragt und mehr will. Manche Personen erfahren es dabei als hilfreich, von einer Person begleitet zu werden und regelmäßige Beichtgespräche wahrzunehmen. Andere finden für sich eine bessere Unterstützung in Gruppen, bei Meditations- und Einkehrtagen. Wieder andere durch intellektuellen Input bei Veranstaltungen, die sie selbst in ihre eigene Praxis integrieren.
Tagung zum Thema "spirituelle Autonomie"
Die Tagung zur "Förderung der spirituellen Autonomie" findet vom 2. bis 3. Dezember 2022 in Frankfurt am Main statt. Die Veranstaltung wird vom Bistum Limburg, dem "Zentrum für christliche Meditation und Spiritualität" und der Einrichtung "RUACH - bildung der ordensleute" organisiert. Sie richtet sich an alle haupt- und ehrenamtlich in der Pastoral Tätigen sowie an Ordensleute und alle am Thema interessierten Menschen.
Frage: Mit Blick auf die lange Geschichte der Spiritualität in der Kirche: Gibt es geistliche Traditionen, die besonders gut zur Förderung einer eigenen Glaubensidentität geeignet sind? Und andere, die dem eher entgegenstehen?
Wustmans: Es ist wunderbar, dass es eine so reichhaltige spirituelle Tradition mit ganz unterschiedlichen Ausprägungen in der Kirche gibt. Um nur einige Beispiele zu nennen: Es gibt ignatianische, benediktinische, franziskanische Spiritualitäten, die befreiungstheologische und feministische Spiritualität. Man kann nicht sagen, eine sei besonders gut und die andere weniger. Das Wesentliche ist die unterschiedliche Praxis: Wie stehen die verschiedenen Strömungen miteinander in Kontakt? Denn es gibt nicht die eine Spiritualität, die über allen anderen steht, sondern die vorhandenen Facetten und notwendigen Relativierungen sind bei der Bewertung hilfreich. Sie sind auch ein Schutzschild gegen spirituellen Missbrauch.
Frage: Bei dieser Vielfalt mit individuellen Einschränkungen stellt sich die Frage, wie einer zu großen Beliebigkeit im spirituellen Leben vorgebeugt werden kann.
Wustmans: Dafür muss man die eigene Spiritualität in Kontakt mit anderen bringen, sich an- und hinterfragen zu lassen. Spiritualitäten können so den Beweis erbringen, ob sie sich als tragfähig, unterstützend oder hilfreich in Situationen erweisen, in denen man mit anderen Mustern nicht weiterkommt. In Krisen zeigt sich, ob die persönliche Frömmigkeit etwas Beliebiges, sozusagen eine Schönwetter-Spiritualität gewesen ist, oder ob sie bei existenziellen Fragen hilft, eine Antwort zu finden. Wenn beispielweise in geistlichen Gemeinschaften alles immer nur super ist, wenn der Eindruck erweckt wird, dort herrsche das reinste Glück, dann würde ich sehr hellhörig werden. Denn dadurch wird ein Kontext geschaffen, in dem Menschen sich nicht mehr trauen, ihre wahren Gefühle oder ihre Zweifel auszudrücken. Darauf weist auch Doris Reisinger hin: Wenn meine Spiritualität nur einem Glücksnarrativ unterworfen ist, dann muss man Obacht geben.
Frage: Heute beginnt Ihre Tagung in Frankfurt. Wie greifen Sie dort diese ganzen Punkte auf, die wir angesprochen haben?
Wustmans: Die Tagung möchte einen Raum des Austausches und der Vernetzung eröffnen. Dazu arbeiten wir interdisziplinär, mit theologischen Vorträgen, etwa von Professorin Julia Knop und Professor Joachim Negel, aber wir blicken auch aus psychotherapeutischer Perspektive auf das Thema. Zudem wird es Workshops mit Personen geben, die aus unterschiedlichen Kontexten kommen, wie aus den Orden, dem Bereich der Geistlichen Begleitung oder der Pfarrei. Die Workshops gehen unter anderem auf Aspekte der Gebetssprache, zur Autonomie biblischer Texte und geistlicher Selbstreflexion ein. Uns war bei der Organisation wichtig, dass universitäre Perspektiven und Praxisfelder zusammenkommen. Für Interessierte, die nicht nach Frankfurt kommen können, werden die Hauptvorträge digital übertragen.