Gesetzentwurf war im Bundestag zunächst gescheitert

Theologe zu Bürgergeld: Man begegnet Menschen nicht mit Misstrauen

Veröffentlicht am 20.11.2022 um 12:15 Uhr – Lesedauer: 

Paderborn ‐ Wie viel Geld sollen Arbeitslose bekommen? Diese Debatte wird um den Gesetzentwurf zum Bürgergeld wieder geführt. Im katholisch.de-Interview spricht der Sozialethiker Günter Wilhelms über Sanktionen, Misstrauen und eine gesellschaftliche Verantwortung - und zeigt bei manchen Argumenten Befremden.

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Der Bundesrat hat mit den Stimmen der Unionsgeführten Bundesländer den Gesetzentwurf der Ampelkoalition zum Bürgergeld angelehnt, der das Hartz-IV-System ersetzen soll. Setzt die Kritik von CDU und CSU an den richtigen Stellen an? Günter Wilhelms ist Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Theologischen Fakultät Paderborn. Im Interview spricht er über Misstrauen und Solidarität der Gesellschaft.

Frage: Herr Wilhelms, das Bürgergeld hat das Ziel, "die Würde des Einzelnen zu achten und gesellschaftliche Teilhabe besser zu fördern". Würden Sie sagen, dieses Ziel ist mit dem Entwurf, wie er uns jetzt vorliegt, erfüllt?

Wilhelms: Die grobe Richtung passt. Man kann jetzt höchstens an einzelnen kleinen Punkten ansetzen und fragen, ob die tatsächlich angemessen sind. Ich denke vor allen Dingen an die Diskussion um das Schonvermögen, das ja für zwei Jahre nicht angetastet werden soll. Auf der anderen Seite ist das wahrscheinlich so selten ein Problem, dass ich mich schon wundere, dass das in der Diskussion so eine große Rolle spielt.

Frage: Fangen wir mit einem Punkt an, den die Unionsparteien immer wieder kritisieren: Die Sanktionsmöglichkeiten, die künftig deutlich eingeschränkt werden sollen. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz sagt beispielsweise, es müsse Anreize geben, wieder zu arbeiten. Was halten Sie von solchen Argumentationen?

Wilhelms: Ich bin sehr skeptisch, ob diese Argumentation tatsächlich begründbar ist. Aus christlicher Sicht gehen wir nicht mit Misstrauen auf Menschen zu, gerade nicht auf diejenigen, die es sowieso sehr schwer haben im Leben. Natürlich ist in unserer modernen Gesellschaft Solidarität systemisch organisiert, das öffnet Räume für Missbrauch. Das war in biblischen Zeiten nicht der Fall. Gleichwohl ist es aus meiner Sicht unangemessen, "Anreize" als negative Sanktionen zu operationalisieren, weil sie eher frustrieren oder gar demütigen. Dabei ist allein die Tatsache, keine Arbeit zu haben, mit erheblichem sozialem Druck verbunden, wird Identität in unserer Gesellschaft ja wesentlich über Erwerbsarbeit vermittelt.

Frage: Auf der anderen Seite entstehen durch Transferzahlungen Kosten für die Allgemeinheit.

Wilhelms: Natürlich. Aber die Allgemeinheit hat die Pflicht, sich gerade um die Benachteiligten zu kümmern, ganz unabhängig davon, wie der Zusammenhalt der Gesamtgesellschaft dadurch beeinflusst wird oder nicht. Wenn jemand benachteiligt ist, da ist die christliche Soziallehre eindeutig, dann muss man ihm helfen. Und zwar so, dass er in die Lage versetzt wird, sich anschließend selbst zu helfen. Aber manche Kritiker tun so, als wäre die Motivationslage ein Riesenproblem, als würde man durch weniger Härte eine Hängemattenmentalität fördern. Dafür spricht sehr wenig, das sind Einzelfälle, nicht die Mehrheit. Der Missbrauch kann aus ethischer Sicht nicht zum Maßstab für eine allgemeine Ordnung werden. Wenn ich ständig Misstrauen signalisiere, darf ich mich nicht wundern, wenn ich im Gegenzug dann eher demotiviere als motiviere. Oswald von Nell-Breunig hat es auf den Punkt gebracht: Die Menschen sollen wieder weniger Objekt und mehr Subjekt sein.

Bild: ©Privat

Günter Wilhelms ist Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Theologischen Fakultät Paderborn.

Frage: Wie kann denn eine Regelung aussehen, die den Menschen mit Vertrauen begegnet?

Wilhelms: Indem man den Grundsatz "Hilfe zur Selbsthilfe" und den Kern dieses Prinzips, den Menschen zur Selbstentfaltung zu verhelfen, ernst nimmt. Indem man Hilfe organisiert, die nicht wie von oben herab wirkt, sondern denjenigen, dem man helfen will, auch ernst nimmt. Das geht nicht über Misstrauen, Kontrolle oder gar Drohungen.

Frage: Sprechen wir über Geld: Momentan liegt der Hartz-IV-Mindestsatz bei 449 Euro, künftig sollen es 502 sein. Der Paritätische Wohlfahrtsverband fordert 725 Euro.

Wilhelms: Natürlich spielt das Geld eine große Rolle, besonders im Augenblick, wenn die Lebensmittelpreise durch die Decke gehen. Die geplante Erhöhung wird da nicht ausreichen.

Frage: Eigentlich soll es ja auch nicht nur darum gehen, Menschen vor dem Verhungern zu bewahren. Eines der Grundprinzipien ist auch gesellschaftliche Teilhabe. Mit 449 oder 502 Euro scheint das kaum lebbar zu sein.

Wilhelms: Bei solchen Summen ist eine gesellschaftliche Teilhabe nur schwer vorstellbar. Natürlich hat das mit Geld zu tun. Ob ich ins Kino oder Theater gehe oder mir einen Computer für mein Kind kaufen muss. Es geht immer um Geld. Oft wird Betroffenen zumindest implizit vorgeworfen, sie würden jeden Cent über dem Existenzminimum sofort in der Kneipe vertrinken. Das ist gerade das, was ich vorhin mit Misstrauen meinte. Solche Vorverurteilungen sind nicht angemessen, wenn man Hilfe zur Selbsthilfe ernst meint. Ebenso ist es, wenn man Gutscheine verteilen würde. Das ist sicherlich eine Möglichkeit, aber sie impliziert Grundmisstrauen.

„Mich wundert schon, dass man, wenn es um Armut geht, das Solidaritätsbewusstsein der gesamten Gesellschaft nicht mehr in den Blick nimmt.“

—  Zitat: Günter Wilhelms

Frage: Kann man vielleicht sagen, dass sich unsere Gesellschaft zu wenig mit diesen Menschen und ihren Bedürfnissen auseinandersetzt?

Wilhelms: Ich glaube schon, dass es nicht zuletzt darum geht, diese Gruppen der Gesellschaft ruhig zu stellen. Das ist mir auch bei den Kritikern aufgefallen, die sich auf das Abstandsgebot zu den Niedriglöhnern konzentrieren. Hier werden die Gruppen gegeneinander ausgespielt, die sowieso am unteren Rand der Gesellschaft sind. Das halte ich für perfide und das führt dazu, dass der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft insgesamt stärker unter Druck gerät.

Mich wundert schon, dass man, wenn es um Armut geht, das Solidaritätsbewusstsein der gesamten Gesellschaft nicht mehr in den Blick nimmt. Schon 1997 haben die katholische und evangelische Kirche festgestellt, dass es dann auch um die Frage geht: Welche Rolle spielen die Reichen? Welchen Anteil, welche Verpflichtung haben sie? Ich halte das für überaus relevant. Statt die Armen gegeneinander auszuspielen, sollten wir uns fragen, wie wir Solidarität in unserer Gesellschaft vernünftig organisieren.

Frage: Ich höre da heraus, dass Sie sich eine größere Beteiligung der Wohlhabenden wünschen, etwa mit einer Reichensteuer?

Wilhelms: Ja, richtig. Ich wundere mich, dass diese Frage gar keine Rolle spielt.  Wenn etwa von Reichensteuer die Rede ist, geht es um die Kompensation unserer Belastungen durch den Ukrainekrieg, aber mit Blick auf die Frage, wie wir diejenigen ganz unten unterstützen, spielt das kaum keine Rolle.

Frage: Die lauteste Kritik kommt von den Unionsparteien, die beide das Attribut "christlich" im Namen tragen. Wie sollte sich denn da die Kirche positionieren?

Wilhelms: Die Option für die Armen zu artikulieren ist seit jeher die vornehmste Aufgabe, die wir als Christen haben. Die kann natürlich nicht glaubwürdig artikuliert werden, wenn sie gleichzeitig Misstrauen schürt. Wenn sich die Kirche in der Öffentlichkeit Gehör finden will, braucht sie Glaubwürdigkeit. Das ist ein Problem.  Das macht es ihr fast unmöglich, mitzudiskutieren. Ich finde das ganz schlimm, weil wir so unserem ureigenen Auftrag nicht erfüllen können.  Wir müssen mitdiskutieren. Wir müssen den Mut haben, die "C"-Parteien auf ihre Widersprüche aufmerksam zu machen.

Von Christoph Paul Hartmann