Ein frommer Zeitmesser?

Die Geschichte des Adventskalenders

Veröffentlicht am 01.12.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Von diesem Donnerstag an öffnen viele Menschen ganz selbstverständlich jeden Tag ein Türchen des Adventskalenders. Doch ursprünglich ging es ihm nicht um den Inhalt. Im 20. Jahrhundert hat der Adventskalender zahlreiche Wandlungen erfahren.

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Jeden Tag ein Türchen mehr, bis alle 24 geöffnet sind. Und der Inhalt? Kleine Darstellungen aus Schokolade, edle Pralinen, Schnaps, ein frommer Text oder gar ein ansehnliches Bildchen. Hauptsache, jeden Tag etwas Anderes und Neues, das zum Entdecken einlädt. Denn schließlich soll die Wartezeit verkürzt und auf irgendeine Art und Weise auch versüßt werden. Dazu schafft man sich schließlich jedes Jahr einen neuen Adventskalender an.

Heutzutage gibt es sie in den unterschiedlichsten Ausführungen. In den Kaufhäusern stehen sie ab Mitte September in den Regalen, sodass auch wirklich jeder seinen Adventskalender rechtzeitig bekommt. Wobei in den vergangenen Jahren der Trend immer mehr zum selbstgebastelten Adventskalender geht. Daneben gibt es eine ganze Reihe weiterer Ausführungen: Adventskalender, die kurze geistliche Impulse bieten, kleine Geschichten, sogar Saatgut wird mittlerweile auf diese Art angeboten. Der Fantasie sind eben keine Grenzen gesetzt.

Das Unsichtbare sichtbar machen

Dabei geht es bei den Adventskalendern eigentlich gar nicht so sehr um den Inhalt. Sie sind vielmehr Zeitmesser, also Hilfen, um die Zeit bis Weihnachten besser zu überbrücken. Der Name "Adventskalender" ist heutzutage allerdings irreführend: Denn bei den wenigstens Zeitmessern handelt es sich um wirkliche Adventskalender, die mit dem ersten Advent beginnen. Die allermeisten dieser Kalender sind strenggenommen Dezember-Kalender, weil sie mit dem 01. Dezember beginnen. Der liturgische Advent kann allerdings schon lange vor diesem Datum anfangen (wie in diesem Jahr) oder auch erst nach dem 01. Dezember.

Doch ganz egal, wie viel Türchen man auch öffnen darf: Als Zeitmesser zeigen Adventskalender an, wie viele Tage noch bis Weihnachten sind. Sie visualisieren die Zeit, die eigentlich unsichtbar ist. Gerade für Kinder ist es schwer, sich vorzustellen, wie groß die Zeitspanne von 24 Tagen ist. Daher hat man schon vor langer Zeit versucht, diese Tage sichtbar darzustellen. Ein solcher Versuch ist aus dem Jahr 1851 überliefert und stammt aus einem Kinderbuch von Elise Averdieck. Dort heißt es: "Abends, wenn die kleine Elisabeth zu Bette ist, dann erzählt ihnen die Mutter immer etwas von der Weihnachtsgeschichte und sie lernen und singen viel Weihnachtslieder. Jeden Abend kommt ein neues Bild an die Tapete, und die Kinder wissen es schon, wenn alle vierundzwanzig Bilder an der Tapete hängen, dann ist Weihnacht da."

Bild: ©dpa/Daniel Reinhardt

Ein Vorläufer des heutigen Adventskalenders: Der Adventskranz nach dem Theologen Johann Hinrich Wichern.

Zeit sichtbar darzustellen, funktioniert also, indem man bestimmte Gegenstände dazu nimmt oder wegnimmt, bis eine bestimmte Zahl erreicht ist. In der Erzählung von Elise Averdieck sind es die Bilder, die Tag für Tag mehr werden. Andernorts hat man 24 Kreidestriche an eine Tür gemalt und Tag für Tag einen Kreidestrich ausgelöscht. Andere Beispiele für adventliche Zeitmesser sind Adventskerzen, die täglich entzündet werden und bis Weihnachten abgebrannt sind, oder Adventsuhren mit 12 Ziffern, deren Zeiger zweimal das Ziffernblatt umrunden muss. Schließlich war es Johann Hinrich Wichern, der im Rauhen Haus in Hamburg 1839 einen Zeitmesser der besonderen Art erfand: Auf ein Wagenrad stellte er vier große und 20 kleine Kerzen. Jeden Tag wurde eine weitere Kerze entzündet, bis am Weihnachtsfest alle Kerzen entzündet waren. Der Adventskranz in seiner Urform war geboren.

Die Idee, einen Zeitmesser für die Adventszeit zu kreieren, machte sich schließlich die Firma Reichhold & Lang aus München zu eigen. 1908 brachte Lang erstmals einen gedruckten Adventskalender heraus, den die Firma bis zu ihrer Schließung im Jahr 1940 durchgehend im Sortiment behielt. Der Kalender trug den Namen "Weihnachts-Kalender" oder "Münchener Weihnachtskalender". Der Adventskalender bestand damals aus zwei Teilen: Einem Untergrundkarton, auf dem 24 Felder aufgezeichnet waren und ein dünneres Blatt mit 24 Bildchen. Die Kinder hatten damals noch mehr zu tun als das bei den heutigen Adventskalendern der Fall ist: Sie mussten den jeweiligen, dem Tag zugeordneten Vers lesen, das Bildchen ausschneiden und es auf das entsprechende Feld aufkleben. Die Sprüche, die den Adventskalender mit dem Titel "Im Lande des Christkinds" zierten, lauteten zum Beispiel: "Heut fliegen aus dem Himmelshaus / Gar viele tausend Engel aus. / Die sind vom Christkind ausgesandt / Und fliegen durch das ganze Land. / In Dorf und Stadt, husch, wie der Wind, / Sehn, ob die Kinder artig sind. / Darum, sei lieb, damit sie droben / Im Himmel dich beim Christkind loben." Unverkennbar nahm der Adventskalender die Umstände der Zeit auf: Marschierend Bleisoldaten waren auf dem Kalender ebenso abgebildet wie ein salutierendes Soldatenheer. Der zugehörige Vers verriet: "Nun, aber, Kinder, seht einmal / Den Bleisoldaten-General, / Wie hoch zu Pferd auf freiem Feld / Er für das Fest Parade hält."

Nach der Kommerzialisierung die Ideologisierung

Der Verleger Lang witterte den Erfolg seiner Adventskalender und brachte ihn in insgesamt acht unterschiedlichen Ausführungen auf den Markt. So gab es neben "Im Lande des Christkinds" auch Ausgaben wie Josef Mauders "Peter und Liesel" oder "Wie Peter und Liesel das Christkind suchen". Später entwickelte der Verleger den Adventskalender weiter: Es gab ihn nun nicht mehr nur mit Illustrationen zum Ausschneiden und Aufkleben, sondern auch mit beweglichen Figuren, die mittels einer Papierlasche hin- und herbewegt werden konnten. Ungefähr ab 1920 erschienen auch die ersten Kalender, bei denen man einfach nur noch ein Türchen öffnen musste, um das dahinterliegende Bild zu entdecken. Die Kalender trugen nun Namen wie "Engelreigen", "Weihnachten im Wald" oder "Die Weihnachtskapelle". Bei den Motiven dominierten Engel, die möglichst süß abgebildet wurden, und verschneite Winterlandschaften.

Es dauerte allerdings nicht lange, bis ein anderer Kalender auf den Markt kam: Er trug den Titel "Vorweihnachten" und auf dem ersten Blatt war unverkennbar ein Hakenkreuz abgebildet, das sich in Form eines Sonnenrades vor einem Tannenbaum drehte. Auch die Illustrationen im Inneren des Kalenders hatten nun nichts mehr mit der romantischen Weihnachtsvorstellung zu tun. Sie zeigen Kinder bei einer Schneeballschlacht, die an die Schützengräben erinnert. Der Schneemann ähnelt einem Soldaten mit Helm und Gewehr. Auf einem anderen Blatt sind Soldaten abgebildet, die auf dem Grab eines Kameraden einen Weihnachtsbaum aufstellen. Unter der Überschrift "Kinder malen" sind Schützenpanzer, Wehrmachtssoldaten und Torpedos abgebildet. Aus Weihnachten war die Sonnenwende geworden, aus der Weihnachtskrippe das Weihnachtsgärtlein und aus dem Christkind das Lichtkind.

Erleuchtetes Fenster mit Weihnachtsdeko.
Bild: ©Jeanette Dietl/Fotolia.com

Außen verschneit, innen gemütlich mit Kerzenschein: Das verbinden bis heute viele mit Weihnachten. Nicht alle Motive alternativer Adventskalender können hier anknüpfen.

Mit Kriegsende wurde auch die Sehnsucht nach einem richtigen Adventskalender wieder größer. Josef Müller, der 1919 den Verlag "Ars sacra" gegründet hatte, versuchte an die Erfolge des Verlegers Richard Lang anzuknüpfen. 1949 schließlich erschien der erste Adventskalender bei Ars Sacra: "Der Weg nach Betlehem". Andere im Verlag publizierte Adventskalender, wie "Weihnacht in China", floppten allerdings. Dort war eine an China erinnernde Landschaft dargestellt, Maria und Josef fanden in Gebäuden Unterkunft, die Tempel ähnelten und neben Bibelversen wurden Sätze von Konfuzius abgedruckt. So verkündete der Kalender: "Alle Welt bereitet sich auf die heilige Nacht vor. Auch im fernen China gehen Christen den Weg zur Krippe. Die Weisen ihres Volkes haben diesen Weg vorausgeahnt."

Heutzutage gibt es die Adventskalender in allen Formen, Farben und Motiven. Dabei ist auffallend, dass nach wie vor nicht alle Modelle ein Erfolg werden. Die Volkskundlerin Esther Gajek bemerkt dazu: "Bei Adventskalendern scheint es konstituierende Bildelemente zu geben, die vom Betrachter erwartet und erkannt werden, um dann in der Assoziation 'Adventskalender' zu münden. Es sind die Tageszahlen, das winterliche Motiv einer verschneiten Stadt und die Stimmung, die vom Licht oder den dargestellten Szenen ausgeht." Das heißt: Bei aller Vielfalt ist es doch der klassische Adventskalender, der bis heute der beliebteste Zeitmesser für die Zeit bis Weihnachten ist.

Von Fabian Brand