Wie ein Adventslied den Bezug zu Juden tilgt
Es ist eines der bekanntesten Adventslieder und wird in den nächsten Wochen wieder landauf, landab in Kirchen und Konzertsälen gesungen und zu hören sein – in Vertonungen von Schütz, Bach, Telemann und anderen. Die Rede ist von Martin Luthers "Nun komm, der Heiden Heiland", das auf einem lateinischen Hymnus des Kirchenvaters Ambrosius von Mailand (339-397) basiert. In der lutherischen Kirche war es jahrhundertelang der Hauptchoral in der Adventszeit und so vertraut, dass kaum jemand über den Text stolperte.
Dabei geht es hier nicht um den ganzen, theologisch anspruchsvollen Hymnus, sondern um die Titelzeile oder deren zentralen Begriff: "der Heiden Heiland". Eine erste Irritation erfolgt, wenn man die Fassung im katholischen Gesangbuch "Gotteslob" zum Vergleich heranzieht. Dort heißt es in der Übersetzung von Markus Jenny: "Komm du Heiland aller Welt" – ein durchaus bedeutsamer anderer inhaltlicher Akzent.
Bei Ambrosius lautet der Vers: "Veni, redemptor gentium", und das lateinische Wort "gens" (Plural "gentes") kann etwa mit "Geschlecht", "Sippe", "Volk/Völker" übersetzt werden, aber auch mit "Heiden". Damit entspricht es dem griechischen "ethnos". Im Hebräischen wird zwischen dem Bundesvolk Israel und den übrigen "Völkern" ("gojim") unterschieden, was in der altgriechischen Septuaginta-Übersetzung der Bibel eben mit "ethnos" wiedergegeben wird.
Im Neuen Testament wendet sich Jesus zunächst nur an die Juden, erst die frühchristliche Mission weitet sich auf "alle Völker" aus. Im Zuge der Trennung der jüdischen und der christlichen Religion verschiebt sich dabei die Bedeutung: Aus den nichtjüdischen Völkern, aus denen der Großteil der Christen stammte, wird die nichtchristliche, "heidnische" Welt. Luther hätte bei seiner deutschen Übersetzung des Ambrosius-Hymnus also ähnlich wie etwa zeitgleich sein Kollege und Kontrahent Thomas Müntzer 1524 übersetzen können "O Herr, Erlöser allen Volks, komm". Seine Entscheidung für "der Heiden Heiland" dürfte nicht allein aus sprachlichen Gründen wegen des gleichen Anlauts erfolgt sein, sondern auch aus theologischen Erwägungen.
Das legt zumindest ein zweiter Blick auf die Originalfassung von Ambrosius nahe. Diese beginnt nämlich mit einer ersten Strophe, die Luther komplett auslässt – im Gegensatz zu allen folgenden Strophen: "Höre, der du Israel lenkst, der du über Cherubim thronst, erscheine, vor Efraim biete auf deine Macht und komm!" Für Ambrosius ist es völlig klar, dass der Erlöser, um dessen Kommen gerufen wird, keineswegs exklusiv zu den Völkern oder Heiden kommt, sondern der von den Juden erwartete Messias ist.
Hat Luther diese Strophe nicht gekannt oder sie bewusst weggelassen? Sein Adventslied, das ohne den Bezug zum Judentum auskommt, reiht sich jedenfalls ein in eine antijudaistische Strömung des Christentums, die der Reformator sicher nicht erfunden, aber doch verstärkt hat. Sie zeigt sich nicht nur explizit in den Hetzreden des alten Luther, sondern auch subtil in vielen Aspekten seiner Theologie, etwa in der Gegenüberstellung von "Gesetz und Evangelium" oder "Glaube und Werke". Oft so verhüllt, dass es fast nicht auffällt – wie hier im Lied "Nun komm der Heiden Heiland".