Wissenschaftler: Religion wird zunehmend etwas Privates
Religion sei keine "gesellschaftliche Klammer" mehr, sondern werde zunehmend zu einer Subkultur: Das beobachtet der Mainzer Religionspsychologe Sebastian Murken. "Religion wird zunehmend etwas Privates, Intimes, über das wenig gesprochen wird", sagte er im Interview der Zeitschrift "Psychologie Heute" (Januar-Ausgabe). So wüssten oft selbst enge Freunde oder Partner nicht, ob eine Person bete. Gesellschaftlich betrachtet sei Religion "keine kollektive Selbstverständlichkeit mehr", sondern jeder müsse für sich ein Verhältnis dazu finden. Die vielen Kirchenaustritte belegen aus Sicht von Murken, "dass die Kirche als Institution nicht mehr überzeugt".
Heute wählten viele Menschen auch im Bereich Religion und Spiritualität, was zu ihnen passe. "Das ist ein wesentlicher Unterschied zu früheren Generationen: Wo damals Gehorsam, Pflichtgefühl und Unterwerfung unter Traditionen wichtige Aspekte im Leben waren, sind heute Autonomie, Wahlfreiheit und Selbstverwirklichung die bestimmenden Werte." Zugespitzt formuliert sei aus dem Vers des Vaterunser "dein Wille geschehe" in der Moderne der Satz "mein Wille geschehe" geworden, so Murken.
In klassischen religiösen Denkmustern hätten die Menschen das jetzige Leben als "Jammertal, eine auszuhaltende Durchgangsphase" betrachtet und auf Gnade und Heil im Jenseits gehofft. "Diese Denkbewegung hat in einer säkularisierten und individualisierten Welt ihre Plausibilität verloren. Heute heißt es: Man lebt nur einmal", erklärte der Experte. So wolle "kaum noch jemand auf das versprochene Schöne im Jenseits warten: Das religiöse Versprechen, irdisches Leid habe einen höheren Sinn, trägt heute nicht mehr."
Weiterhin Bedürfnis nach Transzendenz
Das "menschliche Urbedürfnis", sich mit dem in Verbindung zu bringen, das jenseits der eigenen Wahrnehmungsgrenze liege, bleibe indes bestehen: Es sei die Grundlage für alle Formen gegenwärtiger Spiritualität, so Murken. Vielfach gehe es dabei nicht um einen "vorgeschriebenen Heilsweg", sondern um "eine allgemeine, diffuse Vorstellung, dass da draußen ein wohlwollendes Universum existiert, mit dem es möglich ist, in Kontakt zu treten und Unterstützung zu erfahren."
Zugleich gebe es weiterhin ein Bedürfnis nach Transzendenz: Es drücke sich in dem Wunsch aus, "nicht nur um sich selbst zu kreisen, sondern sich mit etwas Größerem jenseits der eigenen Begrenztheit zu verbinden", sagte der Psychologe. Wer der Religion den Rücken kehre, suche oft nach anderen Formen von Einbindung, etwa in die Natur, die Familie oder eine Gemeinschaft. "Aber sie kann auch in anderen spirituellen Erfahrungen gelebt werden", beispielsweise im verbreiteten Glauben an Engel.
Engel übernähmen die Funktionen, die im christlichen Kontext traditionell Gott zugeschrieben würden, "jedoch ohne verbindlichen theologischen Rahmen", sagte Murken: "In einer Gesellschaft, in der Gott nicht mehr selbstverständlich ist, kommen Engel wie gerufen." Engel könnten darum gebeten werden, Wünsche des Einzelnen zu erfüllen, verlangten aber ihrerseits nichts: "Aspekte der Unterordnung und des Gehorsames werden zugunsten des Selbst, das seinen eigenen Weg finden soll, ersetzt." (KNA)