Europäischer Gerichtshof sichert Rahmen für vertrauliche Seelsorge

Privates bleibt privat

Veröffentlicht am 09.04.2014 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Vorratsdatenspeicherung

Bonn ‐ Die Aufzählung von Telefonverbindungen klingt wie eine Kurzgeschichte: Ohne den Inhalt der Gespräche zu kennen, weiß man, was passiert. Diese privaten Daten sollten nach der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung monatelang aufbewahrt werden.

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Der Europäische Gerichtshof hat am Dienstag diese Richtlinie gekippt. Die anlasslose Speicherung der Verbindungsdaten aller Telefongespräche und Internetverbindungen sei nicht mit den europäischen Grundrechten vereinbar.

Das Gericht hat damit eines der umstrittensten Gesetze der letzten Jahre aufgehoben. Während die Datensammlung in Deutschland vor allem in den Volksparteien und bei Polizei und Geheimdiensten vehemente Befürworter hat, gibt es ein breites gesellschaftliches Bündnis aus netzpolitischen Interessensvertretungen und Organisationen, darunter die Katholische junge Gemeinde (KjG), die sich seit Jahren dagegen engagieren. Auch die evangelische Konferenz für Telefonseelsorge gehört zu den Kritikern.

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Werner Korsten leitet die evangelische Telefonseelsorge in Essen. In deren Bundesverband kümmert sich der Pfarrer um Fragen des Datenschutzes. Er begrüßt das Urteil des Europäischen Gerichtshofs und sieht seine Kritik bestätigt. Im Gespräch betont er, was für einen großen Stellenwert Vertraulichkeit für seine Arbeit hat.

Telefonseelsorge sei nicht einfach nur ein Seelsorgegespräch, das auch vor Ort bei einer Beratungsstelle oder im direkten Gespräch mit einem Pfarrer oder Sozialarbeiter geführt werden könne: "An uns wenden sich Menschen in schwierigen Lebenssituationen, oft geht es um Tabuthemen, die den Anrufern peinlich sind. Viele, die sich an uns wenden, rufen an, um erst einmal auszuprobieren, über Themen zu reden, die ihnen schwerfallen", erläutert Korsten den Wert anonymer telefonischer Beratung. "Schon das Gefühl, dass die Anrufe erfasst werden könnten, sabotiert das Vertrauen in die Telefonseelsorge."

"Zutiefst private Information"

Dass die Vorratsdatenspeicherung nur unproblematische Verbindungsdaten, nicht aber die Inhalte der geführten Gespräche erfasst, lässt Korsten nicht gelten: "Bereits die Tatsache, dass jemand zur Beichte geht oder eben bei einer Beratungsstelle anruft, ist eine zutiefst private Information." Die Gesetze in Deutschland tragen dem Rechnung: Im Telekommunikationsgesetz ist festgelegt, dass Anrufe bei der Telefonseelsorge und anderen Beratungsstellen nicht in Einzelverbindungsnachweisen auftauchen dürfen. Das schützt Anrufer, die sich etwa wegen Problemen in der Ehe oder Streit mit den Eltern melden. Mit einer anlasslosen Speicherung aller Verbindungsdaten würden auch solche Anrufe in den aufbewahrten Datensätzen festgehalten.

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Im Rahmen einer Vorratsdatenspeicherung würden die Verbindungsdaten jedes einzelnen Gesprächs mit den beteiligten Nummern für Monate gespeichert, und bei Handy-Telefonaten zusätzlich die Funkzelle, in der das Mobiltelefon beim Gespräch eingebucht war. Damit ließe sich genau protokollieren, wo und wann man sich während Gesprächen aufgehalten hat. Die vielen Nachrichten über Datenlecks bei großen Internet-Unternehmen zeigten, so Korsten, dass bereits die Aufbewahrung derart großer Datenmengen ein zu großes Risiko sei. "Da kann jederzeit etwas öffentlich werden, da braucht es gar keine NSA und keine Hacker, oft sind es Fehler, die einfach passieren. Der einzig wirksame Datenschutz ist Datenvermeidung!"

In der Politik komme dieser Aspekt in der Debatte um die Vorratsdatenspeicherung zu kurz. "Auf der Agenda steht hauptsächlich Innenpolitik, um Seelsorge geht es da kaum", verweist der Pfarrer auf eine Schieflage die Diskussion. Wenn Abgeordnete wie der sächsische CDU-Politiker Marco Wanderwitz nach dem Urteil nun von einem "Feiertag für das organisierte Verbrechen" sprechen, kann Korsten nur mit dem Kopf schütteln. "Die Erfahrung der letzten Jahre hat doch ganz eindeutig gezeigt, dass das Instrument der Vorratsdatenspeicherung völlig wirkungslos ist im Kampf gegen das organisierte Verbrechen."

Von Felix Neumann

Telefonseelsorge

Die Telefonseelsorge ist eine bundesweite Organisation. Rund 8.000 umfassend ausgebildete ehrenamtliche Mitarbeiter mit vielseitigen Lebens- und Berufskompetenzen stehen Ratsuchenden in 105 Telefonseelsorgestellen vor Ort zur Seite. Unter den kostenlosen und anonymen Nummern 0800/1110111 und 0800/1110222 sind sie rund um die Uhr zu erreichen. Träger der Telefonseelsorge sind die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland, in deren Auftrag die Beratungsangebote von der "Evangelische Konferenz für TelefonSeelsorge und Offene Tür" und der "Katholischen Bundesarbeitsgemeinschaft für Beratung" organisiert und koordiniert werden. (fxn/TelefonSeelsorge)

Vorratsdatenspeicherung

Die Vorratsdatenspeicherung sorgt seit Jahren für erbitterten Streit in Deutschland und der EU. Ist es zulässig, dass Telekommunikationsfirmen flächendeckend speichern, wann wer mit wem wie lange telefoniert oder SMS und E-Mails schreibt? Die am Dienstag vom europäischen Gerichtshof gekippte Richtlinie schrieb den EU-Staaten vor, dafür zu sorgen, dass Telekommunikationsfirmen ohne Anfangsverdacht oder konkrete Gefahr Verbindungsdaten von Privatleuten bei Telefonaten und E-Mails sammeln: Name und Anschrift des Teilnehmers, Rufnummer, Uhrzeit und Datum einer Telefonverbindung, bei Handys auch der Standort zu Gesprächsbeginn. Verbindungsdaten zu SMS, Internet-Nutzung und E-Mails ebenso. Der Inhalt von Gesprächen dagegen wird nicht erfasst. Die Vorratsdatenspeicherung soll helfen, schwere Straftaten zu verhüten und Kriminelle besser zu verfolgen - so argumentieren die Befürworter. Bei Internet-Kriminalität wie Kinderpornos und Datenklau kämen Ermittler mit klassischen Ermittlungsinstrumenten oft nicht weit. Kritiker bezweifeln dies und verweisen auf den Erfolg konventioneller Ermittlungen und die Erfahrungen in Ländern, die bereits Verbindungsdaten auf Vorrat speichern. In Deutschland wird derzeit nicht auf Vorrat gespeichert. Zwar trat 2008 ein Gesetz in Kraft, das eine sechsmonatige Speicherung der Verbindungsdaten vorsah. 2010 erklärte das Bundesverfassungsgericht es aber für verfassungswidrig. Bis dahin gesammelte Daten mussten gelöscht werden. Die Union konnte sich mit dem damaligen Koalitionspartner FDP nicht auf eine Neufassung einigen. Union und SPD hatten in ihrem Koalitionsvertrag festgelegt, dass sie die europäische Richtlinien umsetzen und damit die Vorratsdatenspeicherung wieder einführen wollen. Dies dürfte mit dem Urteil des europäischen Gerichtshofs nun hinfällig sein. (fxn/dpa)