Standpunkt

80. Jahrestag des "Auschwitz-Erlasses": War da was?

Veröffentlicht am 16.12.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Am 16. Dezember 1942 ordnete Heinrich Himmler die Deportation der deutschen Sinti und Roma an. Die meisten von ihnen waren gläubige Katholiken. Ausgerechnet die Kirche aber vernachlässigt das Gedenken an sie, kommentiert Valerie Mitwali.

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Der 16. Dezember bringt für viele Familien alljährlich grausame Erinnerung wie jene von Barbara Adler zurück: "Die Züge fuhren an, die Waggons überfüllt von Menschen, Familien mit ihren Kindern und Kleinstkindern. […] Das Schreien der Masse war unerträglich. Viele der alten Menschen und Kleinkinder überlebten den Transport nicht; tagelang lagen die Toten zwischen uns." Währenddessen beschäftigen sich die meisten Gemeinden relativ unbedarft mit Adventssingen, Weihnachtsfeiern und Kirchendeko.

Heute vor 80 Jahren, am 16. Dezember 1942, ordnete Heinrich Himmler die Deportation der deutschen Sinti und Roma an. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Minderheitsangehörigen bereits einen langen Leidensweg hinter sich: Ausgrenzung durch die Nürnberger Gesetze, Zwangsghettoisierung, Arbeits- und Schulverbote. In den besetzten Ostgebieten hatten bereits Massenerschießungen stattgefunden.

Der "Auschwitz-Erlass" aber zielte auf die totale Vernichtung. Ganze Familien wurden samt Greisen und Säuglingen nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Waren die Kinderarme zu klein für die KZ-Nummer, wurde sie ihnen auf den Oberschenkel tätowiert. Auf die Deportierten warteten Zwangsarbeit, Menschenexperimente und Gaskammern. Hunderttausende fielen diesem Völkermord zum Opfer.

So weit, so bekannt vielleicht noch aus knapp gehaltenen Fußnoten. Was kaum thematisiert wird: Diese deportierten deutschen Familien waren fast alle katholisch. In Ravensburg mahnt eine Gedenktafel: "Sie alle […] gehörten zur Pfarrgemeinde Sankt Jodok." Wo sind die Erinnerungsorte anderer Gemeinden an ihre ermordeten Mitglieder? Die Lücke weckt Zweifel an der Übernahme historischer Verantwortung – auch und gerade der Kirche.

Viel gibt es noch aufzuarbeiten: etwa das tödliche Schweigen der Bischöfe oder die Deportation der in einem katholischen Heim zusammengelegten Kinder der Minderheit. Wie aber soll dies ohne Momente des innehaltenden Gebets möglich sein? Wer es ernst meint mit der "Theologie nach Auschwitz", kann den 80. Jahrestag des "Auschwitz-Erlasses" nicht ignorieren.

An verschiedenen Orten finden heute Gedenkveranstaltungen statt. Wer sucht, findet auch Mahnmale und Stolpersteine in der eigenen Stadt. Und wenn das alles zu viel und zu spontan sein sollte: Warum nicht in der nächsten Kirche eine Kerze anzünden im Gedenken an jene Schwestern und Brüder, die im Namen der menschenverachtenden NS-Ideologie auch aus den Gemeinden deportiert wurden?

Von Valerie Mitwali

Die Autorin

Valerie Mitwali ist Redaktionsmitarbeiterin bei katholisch.de und promoviert an der Ruhr-Universität Bochum in systematischer Theologie.

Hinweis

Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der jeweiligen Autorin bzw. des Autors wider.