Gesellschaftliche Situation befinde sich "an einer Art Kipppunkt"

Soziologe: Durch weniger Kirchenmitglieder werden Tabus fallen

Veröffentlicht am 26.12.2022 um 15:50 Uhr – Lesedauer: 

Hamburg ‐ Seit kurzer Zeit sind die Mitglieder der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland in der Minderheit. Der Religionssoziologe Detlef Pollack rät den kirchlichen Verantwortlichen zu besonnenem Handeln.

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Weil der Anteil kirchlich gebundener Menschen schwindet, werden aus Expertensicht auch viele "Tabus" fallen. "Noch vor 20 Jahren hatten auch antiklerikal eingestellte Menschen einen gewissen Respekt gegenüber der Kirche; gestanden etwa den Bischöfen Anstand und Würde zu. Das ist vorbei", sagte der Religionssoziologe Detlef Pollack dem "Spiegel" (Montag). "Wir befinden uns an einer Art Kipppunkt", so der Seniorprofessor am Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. "Denn Mehrheitsverhältnisse haben die Tendenz, sich zu verstärken."

Vieles werde zur Disposition gestellt. Als Beispiele nannte Pollack Kirchensteuer, Religionsunterricht und Sendezeiten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Und: "Neben differenzierter, kenntnisreicher Kirchenkritik hört man immer öfter eine ressentimentgeladene und vulgäre Ablehnung des Religiösen." Dies sei ein "kultureller Erdrutsch", der institutionelle Folgen haben werde.

Lage für Kirche nicht komplett aussichtslos

Diese Entwicklung könnten die Kirchen nicht mehr aufhalten – "und versuchen schon gar nicht mehr, ihre Besitzstände und Privilegien zu verteidigen, sonst würden sie noch mehr Menschen verlieren", so Pollack. "Jedes Argument für die Bewahrung des Status quo wendet sich gegen sie, weil es als autoritär, undemokratisch und Verteidigung von Partikularinteressen angesehen wird." Die Kirchen müssten sich "kleinmachen", um Angriffsflächen so gering wie möglich zu halten.

Allerdings sei die Lage nicht komplett aussichtslos, gab der Experte zu bedenken. Es gebe immer wieder kleine "Gelegenheitsfenster". Aus Sicht vieler Menschen leisteten die Kirchen Gutes etwa in der Arbeit mit Behinderten, in der Hilfe für Arme und Schwache, bei Beerdigungen und Trauerbewältigung. "Aber es schwindet die Möglichkeit, diese große Tradition, den riesigen Bestand an sozialen Konventionen, den Schatz an Lebensweisheit und geistlicher Kommunikation zu bewahren."

In Deutschland gehören rund 41 Millionen Menschen der katholischen und evangelischen Kirche an. 2021 sank ihr Anteil erstmals auf unter 50 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Laut dem Mitte Dezember veröffentlichten Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung denkt jedes vierte Kirchenmitglied in Deutschland über einen Austritt nach. Unter ihnen sind Katholikinnen und Katholiken mit zwei Dritteln in der Mehrheit. (rom/KNA/epd)