Zwischen Kritik und Polemik: Gerhard Ludwig Müller wird 75
An Silvester wird der deutsche Kurienkardinal Gerhard Ludwig Müller 75 Jahre alt. Er erreicht damit jene Altersgrenze, mit der Bischöfe dem Papst gemäß dem Kirchenrecht ihren Amtsverzicht anbieten müssen. Allerdings: Sein Amt als Präfekt der Glaubenskongregation hat er schon vor gut fünf Jahren eingebüßt. Den nächsten Papst kann Müller wohl dennoch mitwählen; denn das Recht zur Teilnahme am Konklave gilt bis zum 80. Geburtstag. Bis es so weit ist, wird wahrscheinlich noch einige Zeit vergehen – denn der elf Jahre ältere Franziskus wirkt derzeit alles andere als amtsmüde.
Seit der Argentinier dem Deutschen im Juli 2017 überraschend mitteilte, dass er seine Amtszeit als Kurienpräfekt nach fünf Jahren nicht verlängern werde, befindet sich Müller im vorzeitigen Ruhestand. Dennoch ist es seither selten ruhig um den 1,95 Meter großen Kurienkardinal. In keine "Kabinettsdisziplin" mehr eingebunden, äußert er sich immer wieder in Interviews.
Unter den konservativen Kritikern des Jesuiten-Papstes nahm der aus Mainz-Finthen stammende Müller stets eine Sonderrolle ein. Er kritisierte manche Entscheidung von Franziskus; doch meist vermied er, den Papst fundamental zu kritisieren oder ihm gar Häresie (Irrlehren) vorzuwerfen. Der Dogmatiker Müller weiß nur zu gut, in welche Abgründe die Kirche stürzen würde, wenn der Papst in den Ruf käme, Irrlehren zu verbreiten.
Bei "dubia" nicht dabei
Als 2016 vier konservative Kardinäle ihre lehrmäßigen "dubia" (Zweifel) an der päpstlichen Toleranz gegenüber wiederverheirateten Geschiedenen veröffentlichten, war Müller nicht dabei. Später nannte Müller den Vorstoß der vier Kardinäle vom Verfahren her "legitim", machte sich aber die inhaltliche Position nicht völlig zu eigen.
Inzwischen haben sich die moraltheologischen Debatten verlagert und sind schärfer als zuvor. Auf der einen Seite stehen jene, die eine "zeitgemäße" Moraltheologie auf der Basis der freien Entscheidung des einzelnen wollen. Auf der anderen Seite stehen Konservative, die an unveränderlichen Grundsätzen aus Bibel und Tradition festhalten. Beim jüngsten Besuch der deutschen Bischöfe im Vatikan Mitte November prallten beide Lager aufeinander.
Auf vatikanischer Seite war es Müllers Nachfolger, Kardinal Luis Ladaria, der die konservative Sicht vertrat. Müller lobte Ladarias Stellungnahme als "vornehm im Ton" und "hoch im theologischen Niveau". Zugleich teilte er heftig gegen die Deutsche Bischofskonferenz und ihren Vorsitzenden, Bischof Georg Bätzing, aus. Der reformorientierten Mehrheit der deutschen Bischöfe bescheinigte er eine "typisch deutsche Präpotenz und Arroganz, mit der sie sich dem Papst und großen Teilen des Weltepiskopates überlegen fühlen, auf dem Weg in den Abgrund".
Ambivalentes Verhältnis zu Franziskus
Müllers Verhältnis zu Papst Franziskus ist ambivalent. 2019 sagte der Papst über Müller: "Er hat gute Absichten, er ist ein guter Mann. Der Papst mag ihn. Aber er ist wie ein Kind." Als Müller im Jahr darauf das Schreiben des Papstes zur Amazonas-Synode in einem Gastkommentar lobte, schickte Franziskus ihm ein handschriftliches Dankesschreiben.
In dem Schreiben erwähnte Franziskus auch das 2020 von Müller vorgelegte 600-Seiten-Buch über das Papstamt ("Der Papst - Sendung und Auftrag"). Im Juni 2021 folgte sein Buch "Was ist katholisch?", in dem er auch Erfahrungen aus der Pandemie reflektierte. Im selben Monat ernannte ihn Franziskus zum Richter am höchsten Kirchengericht im Vatikan, der Apostolischen Signatur. Das ist zwar kein Fulltime-Job, bedeutete aber nach langer Zeit wieder eine gewisse Aufwertung.
Wenn sich Müller in Interviews in kirchenpolitische Debatten einmischt, bricht – anders als in seinen Büchern – immer wieder ein scharfer, polemischer Ton durch. Im Mai 2020 ließ er sich auf dem Höhepunkt des Streits um die Legitimität von Anti-Corona-Maßnahmen dazu hinreißen, einen Appell des früheren Vatikandiplomaten Carlo Maria Vigano zu unterschreiben.
Nähe zu Verschwörungsmythen
In diesem Appell waren neben der Kritik an Freiheitsbeschränkungen auch Elemente aus Verschwörungsmythen enthalten; darunter der Vorwurf, dass es Kräfte gebe, die "daran interessiert" seien, "in der Weltbevölkerung Panik zu erzeugen". Durch Kontrolle und Überwachung seien sie auf dem Weg zur "Schaffung einer Weltregierung, die sich jeder Kontrolle entzieht". Müllers Unterschrift darunter wurde nicht nur von deutschen Bischöfen scharf kritisiert.
Mehr als zwei Jahre später ist der Streit um die Corona-Maßnahmen abgeflaut. Der ehemalige Präfekt der Glaubenskongregation scheint international keineswegs isoliert. Seine Zeit nutzt er für häufige Vorträge und Reisen. Häufig ist er in Osteuropa und in Nordamerika unterwegs, wo die kirchenpolitischen Mehrheitsverhältnisse andere sind als im deutschsprachigen Raum.
Möglicherweise entsteht bei Müllers vielen Treffen mit Publizisten, Gläubigen und Geistlichen eine Art informelle Allianz für das nächste Konklave. Sollten konservative Kardinäle bei der Wahl eines Nachfolgers von Papst Franziskus einen gemeinsamen Kandidaten suchen, könnte das Wort des früheren Glaubenspräfekten nicht zu vernachlässigendes Gewicht haben.