Theologieprofessor Josef Wohlmuth würdigt seinen Doktorvater Benedikt XVI.

Mein Lehrer Joseph Ratzinger

Veröffentlicht am 01.01.2023 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Josef Wohlmuth lernte seinen Mentor Joseph Ratzinger in den 1960er Jahren kennen. Seitdem hat der heutige emeritierte Theologieprofessor den Lebensweg des späteren Papstes Benedikt XVI. aufmerksam beobachtet – bis zu dessen Tod. Für katholisch.de zeichnet Wohlmuth die wichtigsten Stationen nach.

  • Teilen:

Joseph Ratzinger war für mich ein Theologe, der in der biblischen Offenbarung und kirchlichen Tradition eine Mitte erkannte, von der aus er das Gespräch mit der Moderne zu führen versuchte. Noch als Papst war er darum besorgt, in der Auseinandersetzung mit der Gegenwartskultur den christlichen Glauben nicht zur Disposition zu stellen. Auch nach seiner Wahl wollte Joseph Ratzinger zu unser aller Überraschung noch Theologe bleiben.

In seinen päpstlichen Verlautbarungen und in den theologischen Werken, die während seines Pontifikats veröffentlicht wurden, setzte er Akzente, die neben dem intellektuellen Anspruch darauf Wert legten, Theologie und Spiritualität enger zusammenzuführen. Kirchenpolitisch dürfte der überraschende Rücktritt Benedikts XVI. das Papsttum in Zukunft nachhaltig bestimmen.

Meine konkreten Erinnerungen an Joseph Ratzinger gehen in seine Zeit als Professor der Dogmatik in Tübingen zurück. Als ich 1968 von meiner Heimatdiözese Eichstätt zum Weiterstudium freigestellt wurde, fragte mein Heimatbischof bei Prof. Ratzinger an, ob er mich als Doktorand annehmen würde. Nach einer positiven Antwort begann ich meine Promotion in Tübingen mit ungewissem Ausgang. Im Sommersemester 1969, so erinnere ich mich, fand Joseph Ratzingers letzte Tübinger Vorlesung über die Kirche statt.

Josef Wohlmuth hält eine Rede
Bild: ©Cusanuswerk

Der emeritierte Bonner Theologie-Professor und Ratzinger-Schüler Josef Wohlmuth.

In dieser Zeit hatten die Studentenunruhen in Tübingen gerade ihren Höhepunkt erreicht. Die großen Themen des Konzils, das ja nur wenige Jahre zurücklag, waren zwar noch Gegenstand der damaligen Lehrveranstaltungen, doch die Interessen der Studierenden lagen bereits anderswo. Proteste regten sich gegen den Vietnamkrieg, gegen die verkrusteten Universitätsstrukturen und gegen die Ungerechtigkeiten in der "Dritten Welt". Revolution lag in der Tübinger Luft. Ratzinger gewann den Eindruck, die nachwachsende Generation der Theologiestudierenden werde neomarxistisch unterwandert und verliere sich in der politischen Agitation. Damals erschien das berühmte Buch über das Apostolische Glaubensbekenntnis "Einführung in das Christentum" und der Umzug Joseph Ratzingers nach Regensburg sollte folgen. 

Im Rückblick auf meinen Anfang in Tübingen wurde mir – zumal nach dem Fall der Berliner Mauer – immer klarer, dass Ratzingers Befürchtungen marxistischer Unterwanderung der Theologie nicht völlig aus der Luft gegriffen waren. Aber ich wusste auch, dass die damals allseits bekannten Namen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer Fragen aufgeworfen hatten, die der Theologie nicht völlig entgegenstanden. Als Joseph Ratzinger vom Kardinalskollegium gewählt wurde, war ich mir deshalb sicher, dass er als Papst – wie zuvor in seiner Theologie – für ein soziales Engagement der Kirche eintreten werde, ohne sie dem Streit politischer Lager und Parteien auszusetzen. Dies zeigte er dann in seiner ersten Enzyklika "Deus caritas est" und in seiner Sozialenzyklika "Caritas in veritate".  

Rationalität und Spiritualität zusammenhalten

Es war ein Lebensthema von Joseph Ratzinger, in der Theologie Rationalität und Spiritualität in ihrer Spannung aus- und zusammenzuhalten. Er wies der Theologie eine Verantwortung zu, die sich vor der gesellschaftlichen Öffentlichkeit ebenso wie vor dem Volk der Glaubenden bewähren muss; dazu sei der Theologie ein entsprechender Freiraum zu geben. In diesem Zusammenhang erscheint es mir beachtenswert, wie Papst Benedikt zwischen seiner universalen Leitungs- und Lehrverantwortung in der Kirche und seiner theologischen Fachkompetenz zu unterscheiden wusste, indem er als theologischer Fachmann seine Trilogie "Jesus von Nazareth" der Kritik aussetzte. 

Bild: ©KNA

Joseph Ratzinger war entscheidend am Zweiten Vatikanischen Konzil beteiligt.

Die Verhandlungen mit der Piusbruderschaft verfolgte ich mit großer Skepsis. Als schließlich in deren Kreisen auch die Leugnung der Schoah bekannt wurde, war für mich klar, dass die Rezeption der Konzilserklärung "Nostra aetate" zu den nichtchristlichen Religionen nicht zur Disposition gestellt werden durfte. In einem Brief an Papst Benedikt habe ich dies klar zum Ausdruck gebracht. Seine Antwort lautete, dass für ihn das Zweite Vatikanische Konzil insgesamt und in diesem Einzelpunkt in keiner Weise zurückgenommen werden könne. Der Streit um die Auslegung einzelner Texte sei jedoch weiterhin notwendig. Damit konnte ich leben; denn die Auslegung von Texten gehört zum Urgeschäft der Theologie.  

Marxismus zwingt Christen zum Handeln im Diesseits 

Während Kritiker wiederholt unterstellten, der Theologe Joseph Ratzinger wolle auch als Papst hinter die Aufklärung zurück, habe ich stets die These vertreten, dass er selbst als Pontifex um die "Dialektik der Aufklärung" wusste. In seiner Enzyklika "Spe salvi" werden nicht von ungefähr die Namen ihrer Vertreter Theodor W. Adorno und Max Horkheimer genannt. Schon Ratzingers Einführung in das Christentum hatte zu bedenken gegeben, dass die Kritik des Marxismus das Christentum dazu zwinge, sich auch um das Heil der Welt bis hin zur Auferstehung des Fleisches zu kümmern.  

Ich vermute, dass Papst Benedikt angesichts der Licht- und Schattenseiten der Neuzeit auch noch in seinem Pontifikat von der Frage bedrängt war, ob das Christentum in der Lage ist, bezüglich der Grundfragen von Schöpfung, Erlösung und Vollendung der Welt die Meinungshoheit des Glaubens in Europa zurückzugewinnen. Joseph Ratzinger hat nach meinem Verständnis den Menschen der Gegenwart mit ihren hohen wissenschaftlichen und technischen Machbarkeitserwartungen in aller Bescheidenheit den Glauben an die Auferstehung Jesu entgegengesetzt, in der er den "radikalen 'Mutationssprung'" der Evolution gesehen hat. Darin besteht eines seiner denkerischen Angebote dafür, wie sich Glaube und Vernunft in Fragen der kosmischen Evolution gegenseitig neu beleuchten können.

Bild: ©picture alliance / dpa | Michael Kappeler

Papst Benedikt XVI. verließ als erster papst der Neuzeit sein Amt freiwillig und vor seinem Tod.

Mag sein, dass Joseph Ratzinger als Papst Benedikt XVI. noch jenen Zweifel kannte, dessen Zusammengehörigkeit mit dem Glauben er in der Einführung in das Christentum so nachdrücklich beschrieben hat. Könnte man sogar so weit gehen zu vermuten, dass er auch als Papst von der Skepsis geplagt war, ob der Mensch in der aufgeklärten Welt überhaupt noch gewillt und fähig sei, seine Hoffnung auf die absolute Transzendenz zu setzen? Vielleicht sind diese und ähnliche Fragen von so grundlegender Bedeutung, dass sie über kurz oder lang – diesseits oder Jenseits von Religion und Ideologie – die gesamte Menschheit umtreiben werden. Dann wäre Benedikt XVI., der so sehr europäisch wirkte, auch ein Papst für die ganze Menschheit gewesen, in dessen Fußstapfen sein Nachfolger, Papst Franziskus, weitere Akzente setzen kann.  

Schließlich wurde die Sicht der gesamten Ökumene auf das höchste Wahlamt der katholischen Kirche schlagartig verändert, als Papst Benedikt XVI. sich freiwillig entschied, sein Amt niederzulegen. Er hat dadurch ein Zeichen gesetzt, dessen historische Bedeutung für ein neues Verständnis des Papsttums als Wahlamt auf Zeit noch gar nicht ermessen werden kann. Auch nach einigen Jahren erscheint mir der Schritt Papst Benedikts deshalb höchst bemerkenswert. Ich habe diese Entscheidung sehr bewundert.  

Er ließ auch andere Positionen zu 

Joseph Ratzinger war für mich ein herausragender Lehrer der Theologie, der von seiner Position sehr überzeugt war, aber auch zulassen konnte, wenn im Schülerkreis andere Wege des Denkens gesucht und gegangen wurden. Was ich von ihm vor allem gelernt habe, ist die Erkenntnis, dass die Theologie, so sehr sie auch das Gespräch mit den verschiedensten Disziplinen suchen muss, dennoch den Glauben in seiner unverwechselbaren Vorgegebenheit und Eigenbedeutung nicht verspielen darf.  

Jetzt am Ende eines langen und immer mühsamer werdenden Lebens, dem der Tod erlösende Gnade bedeuten mochte, trauert der Schülerkreis um seinen uns allen weit überlegenen Lehrer. Die Bedeutung seines Pontifikats, dem von Anfang an der Charakter des Übergangs anhaftete, wird erst vom geschichtlichen Abstand her zu beurteilen sein. Den Eindruck, dass ein großer Mensch und Theologe unter uns gelebt hat und von uns gegangen ist, werden viele in stiller Trauer mit uns teilen.

Von Josef Wohlmuth

Der Autor

Josef Wohlmuth (Jg. 1938) ist emeritierter Professor für Dogmatik an der Universität Bonn und Schüler von Joseph Ratzinger. Von 2004 bis 2011 war er Leiter des Cusanuswerks.