Seelsorger zu Silvesternacht: Polizei braucht auch ethische Ausrüstung
Nach der Silvesternacht wird heftig diskutiert über mögliche Konsequenzen aus den Übergriffen auf Polizisten und andere Einsatzkräfte. Böllerverbotszonen, ein verschärftes Strafrecht, Bodycams sind einige Schlagworte. Die Ursachen des Problems greifen allerdings viel tiefer, meint Frank-Peter Bitter, Polizeiseelsorger im Erzbistum Berlin. Der 57-Jährige plädiert für eine bessere gesellschaftliche Integration für Menschen aus Problemvierteln und dafür, Polizisten stärker auf schwierige Situationen vorzubereiten – und hat einen konkreten Vorschlag, wie das funktionieren könnte.
Frage: Wie waren Ihre Eindrücke von der Silvesternacht in Berlin, Herr Bitter?
Bitter: In Berlin ist es nicht unüblich, dass Silvester viel los ist. Diesmal ist es aber absolut aus dem Ruder gelaufen. Polizisten sind gezielt in Hinterhalte gelockt worden, es sind Steine geflogen. In Neukölln ist ein Reisebus angezündet worden. In illegalen Böllern war fast so viel Sprengstoff TNT wie in Handgranaten. Das ist skandalös und macht mich wütend. Es kann nicht sein, dass Rettungskräfte und Polizisten, die sich um Ordnung und Sicherheit sorgen, angegriffen werden.
Frage: Was macht das mit den Einsatzkräften?
Bitter: Es gibt sicher Polizisten, die in der Silvesternacht Angst um ihr Leben hatten. Aber die Bilder, die sich in ihre Köpfe eingebrannt haben, kommen erst später wieder hoch. Im Einsatz agieren sie hochprofessionell, haben keine Zeit zum Nachdenken. Ich biete mich dann im Nachgang als Gesprächspartner an, möchte mich aber auch nicht aufdrängen. Die Rolle als Polizeiseelsorger ist eine andere als vor 30, 40 Jahren. Wir sind nicht mehr Nabel der Welt, sondern ein Angebot unter vielen – gerade in einer so säkularisierten Stadt wie Berlin.
Frage: Sind Sie als Seelsorger überhaupt noch gefragt?
Bitter: Manche haben es tatsächlich nicht im Blick, dass es so etwas wie Polizeiseelsorge gibt. Andererseits haben wir einen guten Stand bei vielen Polizisten und Polizistinnen. Wir behandeln alles vertraulich. Auch wenn es in Gesprächen um Straftaten geht, muss ich das – anders als etwa Vorgesetzte oder Kollegen von Polizisten – nicht weitermelden. Manche wollen aber auch ihre Gefühle nicht offenlegen. Gerade für ältere ist es oft schwierig, sie machen viel mit sich aus. Ob das so gut ist, ist eine andere Frage.
Frage: Probleme mit ausufernder Gewalt gegen Polizisten, Feuerwehr und Rettungskräfte gibt es nicht nur an Silvester. Vor einigen Jahren eskalierte zum Beispiel an einem Sommerabend in Stuttgart die Lage und es kam zu Ausschreitungen. Was steckt hinter solchen Phänomenen?
Bitter: Aus ihnen spricht Respektlosigkeit. Es gibt unter Autonomen, Skinheads oder Hooligans seit langen den Ausspruch "All Cops are Bastards", was so viel heißt wie "Alle Bullen sind Schweine". Aber es geht natürlich tiefer: Die große Mehrheit der Festgenommenen in der Silvesternacht sind Männer. Interessant ist jetzt, aus welchen Milieus sie kommen. Welche Rolle spielt da Gewalt, vielleicht auch in den Familien? Mir haben mal Polizisten erzählt, sie haben einen Jugendlichen aufgegriffen und nach Hause gebracht, und dann durch die verschlossene Tür gehört, wie er zu Hause vermöbelt worden ist. Möglicherweise wird Gewalt, gerade auch gegen den Staat, auch als eine Art seltsames Männlichkeitssymbol gesehen.
Frage: Manche Menschen haben vielleicht auch den Bezug und das Bewusstsein dafür verloren, was sie da eigentlich gerade machen, sind abgestumpft….
Bitter: Es schimmert auch so etwas wie Spaß an Gewalt durch. Die Krawalle können ein Ventil gewesen sein oder ein Praxistest: Wie weit kann ich gehen? Die Feuerwerkskörper sind eine Art unverhoffte Bewaffnung.
Frage: Was muss Gesellschaft und Kirche jetzt tun, um auf solche Entwicklungen zu antworten?
Bitter: Es geht hier um gesellschaftliche Integration von Menschen, ob sie nun einen migrantischen Hintergrund haben oder aus prekären, sogenannten "abgehängten" Milieus kommen. Grade in großen Städten gibt es ghettoisierte Gegenden, in denen die Polizei praktisch nichts mehr zu sagen hat. Da ist an Integration viel verpasst worden. Der Kontrast ist dann eine scheinbare heile Welt von Villenvierteln mit Privatschulen.
"Mülleimer sein für den Frust"
Marc Meiritz war am Rande des G20-Gipfels in Hamburg als Polizeiseelsorger im Einsatz. Die erlebte Gewalt hat Spuren hinterlassen. Auch an Kirchenvertretern übt Meiritz in diesem Zusammenhang Kritik. (Interview vom 11. Juli 2017)
Frage: Wo sehen Sie da Ansatzpunkte für die Kirche – zum Beispiel in Schulen, in der Jugendarbeit?
Bitter: Klassische konfessionelle Jugendarbeit hätte in Berlin vielleicht vor 20, 30 Jahren Erfolgschancen gehabt, eine größere Zahl von Jugendlichen zu erreichen. Das ist inzwischen vorbei. Aber es gibt tolle Einzelprojekte, die die Menschen da abholen, wo sie sind, und das unabhängig von ihrer Religion. Zum Beispiel das "Pallotti-Mobil" des Pallottiner-Ordens mitten im Neuköllner Kiez. Hier helfen Bedürftige anderen Bedürftigen bei Umzügen oder Renovierungsarbeiten – auch Familien mit Kindern und Jugendlichen.
Frage: Was gilt es zum Schutz der Polizisten zu tun?
Bitter: Aus ethischer Sicht wäre es gut, wenn sie sich präventiv, am besten schon in der Ausbildung mit ihrer eigenen Haltung als Polizisten auseinandersetzen. Welche Rolle habe ich? Wie resilient bin ich gegen Anfeindungen, wie halte ich das aus, ohne gebrochen zu werden oder innerlich zu kündigen? Polizisten müssen neutral sein – und das ist bisweilen eine riesige Herausforderung. Ich habe der Polizei vorgeschlagen, in Berlin ein Ethikzentrum einzurichten, das Gewalt an und durch Polizisten thematisiert. Es soll für sie Anlaufstelle sein sowohl in der Ausbildung als auch nach akuten Lagen wie jetzt an Silvester. Das wäre aus meiner Sicht wichtig, weil sich sonst Erlebnisse verkapseln können, die später an unpassender Stelle herausbrechen. Dann ist die Gefahr da, dass Polizisten über die Stränge schlagen. In NRW gibt es so ein ethisches Zentrum schon, hier ist es jetzt in Planung. Es bedarf für Polizisten eben nicht nur einer physischen Ausrüstung zu ihrem Schutz, sondern auch einer ethischen Ausrüstung. Sie müssen gestärkt werden in ihrem Dienst und dürfen nicht verheizt werden.
Frage: In der Vergangenheit gab auch Schlagzeilen etwa über rechtsextreme Netzwerke in Sicherheitsbehörden oder überzogene Polizeigewalt etwa gegenüber Demonstranten. Inwieweit ist das auch ein Problem?
Bitter: Die Polizei ist ein Spiegel der Gesellschaft. Genau wie sich dort rechtsextremes Gedankengut bildet, lässt sich das auch bei der Polizei nicht ganz vermeiden. Klar sind unter den rund 24.000 Polizisten und Polizistinnen in Berlin auch einige schwarze Schafe. Das ist aber nur eine sehr kleine Minderheit.
Frage: Welche langfristigen Folgen haben Ereignisse wie die Silvesternacht für Polizei, Feuerwehr und Rettungskräfte – zum Beispiel bei der Nachwuchsgewinnung?
Bitter: Junge Leute, die diese Bilder sehen und sich bisher vielleicht für den Polizeiberuf interessiert haben, schreckt das ab: Warum sollen sie sich das geben? Es gibt jetzt schon unsägliche Personallücken bei der Berliner Polizei, die nie aufgefüllt wurden. Eine Landesregierung kann natürlich eine klimaneutrale Stadt Berlin schaffen, aber sie hat auch Pflichtaufgaben. Dazu gehört es, für Sicherheit zu sorgen. Das ist aber nur möglich, wenn in die Polizei ausreichend investiert wird – sowohl in ihre Ausrüstung als auch in gut ausgebildetes und bezahltes Personal.