Theologin Fischer kritisiert "Santo subito"-Wünsche für Benedikt XVI.
Die Grazer Alttestamentlerin Irmtraud Fischer hat schnelle Rufe nach einem "Santo subito" für den verstorbenen Benedikt XVI. scharf kritisiert. Ein solcher Ruf sei "ein Schlag ins Gesicht aller Missbrauchsopfer und konterkariert alle Bemühungen um schonungslose Aufarbeitung", schreibt Fischer in einem Beitrag auf der Internetseite der Herbert-Haag-Stiftung (Mittwoch). Schaue man auf Joseph Ratzingers Rolle "in Bezug auf den Missbrauch in der katholischen Kirche, die ihm in seinem letzten Lebensjahr sogar die Einleitung eines Prozesses in seinem Heimatland beschert hat", sei dieser Ruf "gänzlich unbegreiflich": "Da will sich wohl die Kirche öffentlichkeitswirksam selber vergeben, was sie an schutzbefohlenen jungen Menschen verbrochen hat."
Benedikts langjähriger Privatsekretär, Erzbischof Georg Gänswein, hatte in einem am Sonntagabend verbreiteten Interview des privaten katholischen Fernsehens "EWTN" gesagt, er halte es für möglich, dass auch bei Benedikt XVI. wie einst bei Johannes Paul II. Forderungen nach einer baldigen Seligsprechung laut werden.
Über die Rolle Benedikts XVI. im Missbrauchsskandal der katholischen Kirche gibt es kontroverse Debatten. Rechtsgutachter werfen ihm unter anderem vor, dass er in seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising zwischen 1977 und 1982 im Umgang mit vier Priestern unter Missbrauchsverdacht Fehler gemacht habe. Benedikt ließ diese Darstellung zurückweisen. Vergangenes Jahr reichte ein mutmaßlicher Missbrauchsbetroffener Zivilklage gegen Ratzinger und weitere Personen ein. Andererseits loben Beobachter Benedikt dafür, dass er in seiner Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation die Ausmaße die Dimensionen des sexuellen Missbrauchs in der Kirche erkannt habe und dessen Bekämpfung angegangen sei.
"Moralische Bankrotterklärung"
Mit dem "Santo subito"-Ruf versuche die Kirche, ihre Führungspersönlichkeiten für "sakrosankt" zu erklären und damit zugleich gegen Kritik abzuschirmen, schreibt Fischer weiter. Eine Selig- oder Heiligsprechung des emeritierten Papstes, "der selber die Weitsicht hatte, dass ihn die Leitung der Kirche in seinem Alter überforderte", würde eine "moralische Bankrotterklärung des absolutistischen Systems Katholische Kirche" bedeuten.
Weiter betont Fischer in ihrem Beitrag, dass Benedikt XVI. in seiner Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation "eine Leidensgeschichte und ein Braindrain für die Theologie" zu verantworten habe. "Einige von der ersten Generation habilitierter Theologinnen entkamen einer Verurteilung durch diesen nun als so sanftmütig und so freundlich beschriebenen Mann nur durch den Wechsel auf Lehrstühle anderer Konfessionen", schreibt sie. Dass der "Santo subito"-Ruf vom engsten Vertrauten des Verstorbenen vorgebracht und nun auch noch von den Medien aufgegriffen werde, sein in Anbetracht des Wirkens der Glaubenskonkregation unter Ratzingers Ägide "mehr als befremdlich".
Die Herbert-Haag-Stiftung steht nach eigenen Angaben im Dienst eines aufgeschlossenen und ökumenisch gesinnten katholischen Glaubens. Sie vergibt jährlich den "Herbert-Haag-Preis für Freiheit in der Kirche". 2023 werden das theologische Feuilleton-Portal Feinschwarz.net sowie die deutsche Theologin Julia Enxing ausgezeichnet. (mal)