Besuch im "Problembezirk": Pater Lenz und die guten Seiten von Neukölln
Man kann es sich heute kaum noch vorstellen, doch es gab eine Zeit, da stand der Name Neukölln für die Hoffnung auf einen Neuanfang. 1912 war das. Damals hieß der Norden des heutigen Berliner Bezirks noch Rixdorf und hatte einen ausgesprochen schlechten Ruf. Die kleine Stadt, die erst 1920 Teil von Groß-Berlin wurde, galt als Inbegriff des frivolen Lasters, das in dem Gassenhauer "In Rixdorf ist Musike" seinen musikalischen Ausdruck fand. Um den schlechten Leumund der Kommune als Armutsquartier und verrufenes Vergnügungsviertel abzustreifen, entschied die Stadtverordnetensitzung im Januar 1912 mit Zustimmung von Kaiser Wilhelm II., Rixdorf in Neukölln umzubenennen.
111 Jahre später ist von den Hoffnungen, die mit dem Namenswechsel verbunden waren, längst nichts mehr übrig – im Gegenteil. Seit Jahren gilt Neukölln weit über Berlin hinaus als Synonym für eine gescheiterte Integrations- und Sozialpolitik, für Gewaltexzesse und ein Versagen des Staates. Wenn der 330.000-Einwohner-Bezirk in den Medien erwähnt wird, geht es in der Regel um Probleme. "Typisch Neukölln" heißt es dann meist – häufig gefolgt von einer aufgeregten Debatte darüber, dass es so nicht weitergehen dürfe.
Heftige Krawalle und Angriffe auf Einsatzkräfte an Silvester
Zuletzt zu erleben war das in und nach der Silvesternacht. Rund um den Jahreswechsel kam es in dem Multikulti-Bezirk im Südosten der Hauptstadt zu heftigen Krawallen und tätlichen Angriffen gegen Polizisten und Feuerwehrleute – viele davon nach übereinstimmenden Schilderungen der Einsatzkräfte und belegt durch Videos begangen von jungen Männern mit Migrationshintergrund. Die Exzesse, zu deren Symbol ein ausgebrannter Bus in der Neuköllner High-Deck-Siedlung wurde, lösten eine hitzige politische Debatte aus, bei der sich vor allem die in Berlin und im Bund oppositionelle CDU mit markigen Sprüchen ("kleine Paschas") und einer umstrittenen Anfrage zu den Vornamen der Täter hervortat.
Pater Karl Hermann Lenz hat die Diskussionen verfolgt und kann auch gut drei Wochen nach der großen Aufregung über manche Äußerungen nur den Kopf schütteln: "Vieles in der Debatte wurde total aufgebauscht. Bei den Äußerungen mancher Politiker merkte man, dass da Leute ein Urteil sprachen, die wohl eher selten in Neukölln sind und die Situation nicht persönlich kennen." Zu behaupten, dass Neukölln vor allem ein Ort der Probleme und der Parallelgesellschaften sei, entspreche nicht der Realität, so der Geistliche.
Lenz muss es wissen. Immerhin lebt der Pallottinerpater, den hier fast alle nur Kalle nennen, schon seit 30 Jahren in Neukölln. 1993 kam der gebürtige Kasselaner mit einer kleinen Gruppe seiner Gemeinschaft in den Bezirk, um ein soziales Projekt zu initiieren. "Wir nannten das 'Kirche im sozialen Brennpunkt'. Unser Ziel war es, uns in einer großstädtischen Kirchengemeinde sozial zu engagieren", erzählt der 64-Jährige beim Besuch von katholisch.de. Nachdem sie sich zunächst in Hamburg nach einer passenden Gemeinde umgesehen hätten, seien sie schließlich in Neukölln gelandet – genauer gesagt in der Pfarrei St. Christophorus im Reuterkiez. "Neukölln war damals noch total unbekannt und weit davon entfernt, der berühmt-berüchtigte Bezirk zu sein, der er heute ist. Damals redeten eigentlich alle nur von Kreuzberg", erinnert sich der Geistliche.
Von der "Berliner Bronx" zum hippen Großstadtkiez
Doch das änderte sich bald – und spätestens als Lehrer der Rütli-Schule ganz in der Nähe von St. Christophorus im Jahr 2006 mit einem Brandbrief an die Öffentlichkeit gingen und Gewalt und Verwahrlosung beklagten, hatte Neukölln seinen Ruf als Problembezirk weit über Berlin hinaus weg. "Damals war die Ecke hier so etwas wie die Berliner Bronx, ein Problemviertel mit Armut, Drogen und viel Kriminalität", so Lenz. Seither hat der Kiez sich jedoch massiv gewandelt – Stichwort Gentrifizierung. "Gerade die Gegend um unsere Kirche ist inzwischen total hipp, die Sozialstruktur hat sich seit etwa 2008 radikal verändert", erläutert der Pater. Wer durch das Viertel rund um St. Christophorus läuft, sieht das schnell. Neben den für Neukölln typischen arabisch-türkischen Cafés und Geschäften haben sich Bioläden, schicke Modeboutiquen und stylishe Coffeeshops niedergelassen.
„Mich hat es, ehrlich gesagt, nicht überrascht, dass es an Silvester zu diesen Exzessen und den Übergriffen auf Polizei und Feuerwehr gekommen ist.“
Die sozialen Probleme hätten sich inzwischen weiter südlich verlagert, sagt Pater Lenz. Etwa in die High-Deck-Siedlung am südlichen Ende der stark arabisch geprägten Sonnenallee. Die Großwohnsiedlung aus den 1970er und 1980er Jahren, die heute als sozialer Brennpunkt gilt, gehört ebenso wie St. Christophorus zur Pfarrei Heilige Drei Könige Nord-Neukölln. Die Pfarrei zählt knapp 15.000 Katholiken, gemessen an den gut 160.000 Einwohnern in Nord-Neukölln beträgt ihr Anteil an der Bevölkerung also nur rund neun Prozent.
Dass es in Neukölln nicht nur in der High-Deck-Siedlung Probleme gibt, bestreitet Pater Lenz beim Gespräch in seinem Gemeindebüro nicht: "Mich hat es, ehrlich gesagt, nicht überrascht, dass es an Silvester zu diesen Exzessen und den Übergriffen auf Polizei und Feuerwehr gekommen ist." Viele Mitglieder seiner Pfarrei kämen schon seit Jahren nicht mehr gerne in den Jahresschlussgottesdienst, weil die Straßen Neuköllns durch die Knallerei an Silvester kein angenehmer Ort seien. "Es wird hier so viel geballert, das ist schon krass", so Lenz.
Doch die Probleme sind nicht auf Silvester beschränkt. "Im Freibad am Columbiadamm braucht es im Sommer oft einen Sicherheitsdienst, weil junge Machos da über die Stränge schlagen und viele Badegäste sich belästigt fühlen. Oder nehmen sie die häufigen Angriffe auf BVG-Fahrer:innen. Das ist alles schon richtig traurig", erzählt der Pater. Diese Probleme nur auf Neukölln zu reduzieren oder an bestimmten Ethnien festzumachen, sei aber unfair. "Im vergangenen Mai gab es in Dresden anlässlich eines Fußballspiels ganz ähnliche Krawalle, da wurden auch Feuerwerkskörper auf Polizisten geschossen. Und das waren ganz überwiegend junge sächsische Männer ohne Migrationshintergrund", betont Lenz.
Der Geistliche, der mit seiner Funktionsjacke und seinem Fleecepullover so gar nicht klerikal daherkommt, sondern eher wie ein sympathischer Sozialarbeiter wirkt, wirbt im Gespräch dafür, stärker die positiven Seiten Neuköllns in den Blick zu nehmen: "Bei vielen Sachen kann man durchaus staunen und sich freuen, was hier alles funktioniert – auch im Zusammenleben der Menschen und der unterschiedlichen Kulturen." Der Bezirk habe definitiv auch seine charmanten Seiten, die große Mehrheit der Neuköllner sei freundlich und hilfsbereit. Dies gilt laut Lenz zum Teil auch für das Miteinander der Religionsgemeinschaften. So sei er selbst schon mehrfach von Moscheegemeinden zum Fastenbrechen eingeladen worden und habe dort auch Reden gehalten. "Da ist durchaus ein Kontakt da und auch ein gegenseitiges Interesse", erzählt der Priester. Das bedeute nicht, dass es im Zusammenleben keine Probleme gebe. "Natürlich gibt es immer mal wieder negative Erfahrungen – aber die gibt es auch woanders, auch in Nachbarschaften, in denen fast nur Deutsche ohne Migrationshintergrund leben."
Mehr Akademiker und weniger Leistungsempfänger
Apropos Deutsche ohne Migrationshintergrund: Deren Präsenz ist im Zuge der Gentrifizierung im Kiez deutlich angestiegen. Sichtbar wird das nicht nur auf den Straßen rund um St. Christophorus, sondern auch in der Kita der Gemeinde. "Vor einigen Jahren lebte jedes zweite unserer Kita-Kinder noch in Familien, die auf Transferleistungen angewiesen waren. Außerdem hatten wir hier Kinder fast aus der ganzen Welt", erzählt Lenz. Das sei heute anders, weil in den vergangenen Jahren viele deutsche Akademiker in das Viertel gezogen seien. "Das ist natürlich überhaupt nichts Schlechtes, ich bin ja auch ein deutscher Akademiker, aber die Sozialstruktur im Kiez hat sich dadurch eben deutlich verändert", betont der Priester.
Das Motto "Kirche im sozialen Brennpunkt", mit dem Lenz und seine Mitstreiter ihre Arbeit 1993 begonnen hatten, scheint also zumindest für den Norden Neuköllns nicht mehr zeitgemäß. Sie beschreiben ihr Wirken heute deshalb auch lieber als "sozial–spirituell-kulturell". Zudem seien sie laut Lenz im Laufe der Jahre immer spiritueller geworden – bei jeder Grenzerfahrung greifen sie ein Bonmot eines Gemeindemitglieds auf: "Mit Gott, da geht noch was ...".
„Es gibt so vieles, was hier in Neukölln schön ist und richtig gut funktioniert, und man kann ganz tollen Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen begegnen. Das ist doch ein Gewinn, den man nicht kaputtreden darf.“
Allerdings: Verschwunden sind die Armut und die damit einhergehenden Probleme natürlich nicht. Deshalb engagiert sich die Pfarrgemeinde neben der traditionellen Gemeindearbeit weiterhin stark im sozialen Bereich. "An allen Standorten unserer Pfarrei bieten wir entsprechende Angebote an", betont der Pallottinerpater. Beispielhaft dafür steht vor allem der stadtweit bekannte Verein "Pallotti-Mobil", eine Art Nachbarschaftshilfeprojekt, das bedürftigen und ausgegrenzten Menschen durch konkrete Unterstützung im Alltag Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen möchte. Zu den Angeboten des Vereins gehören unter anderem Renovierungs- und Umzugshilfen, ein Mittagstisch in St. Christophorus und eine Kleiderkammer in St. Clara auf der anderen Seite der Sonnenallee. Darüber hinaus engagieren sich auch die Gemeinschaft Sant'Egidio mit einer Hausaufgabenhilfe, die von Schwester Lea Ackermann gegründete Frauenhilfsorganisation SOLWODI sowie die Caritas und der Sozialdienst katholischer Frauen in der Pfarrei.
"Die Politik sollte auf die Experten vor Ort und ihre Vorschläge hören"
Im sozialen Bereich und im Hören auf die Menschen vor Ort sieht Pater Lenz denn auch eine Möglichkeit, die aufgeregte und bislang so fruchtlose Debatte um die Silvesterkrawalle vielleicht doch noch in eine Richtung zu drehen, die den Herausforderungen Neuköllns tatsächlich gerecht wird. "Ich glaube, die Politik auf Landes- und Bundesebene ist immer gut beraten, auf die Expert:innen vor Ort und ihre Vorschläge zu hören", sagt der Pater. Mehr getan werden muss seiner Ansicht nach zum Beispiel für die Jugendlichen im Kiez: "Dass in den vergangenen 20 Jahren so viele Jugendtreffs mit Kürzungen und Schließungen kämpfen mussten, war nicht hilfreich." Positiv sei aber anzumerken, dass die Schulsozialarbeit bereits deutlich ausgebaut wurde. Das sei weiter zu stärken, "da die Schule der Ort ist, an dem man am besten an die Jugendlichen rankommt. Manche Problem-Jugendliche sind allerdings Schulverweigerer – da sind die Hausbesuche, die es schon gibt, auszubauen".
Von der "höheren politischen Ebene" – vor allem der Bundespolitik – würde sich Lenz zudem mehr Demut und mehr Sensibilität wünschen. Man spüre, ob ein Politiker wirklich an Lösungen für Probleme interessiert sei oder ob er nur Stimmung auf Kosten von Minderheiten machen wolle. "Es gibt so vieles, was hier in Neukölln schön ist und richtig gut funktioniert, und man kann ganz tollen Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen begegnen. Das ist doch ein Gewinn, den man nicht kaputtreden darf", betont Lenz zum Abschied.