Missbrauch bleibt in der Pfarrfamilie: Lehren aus der Essener Studie
Hartnäckiges Schweigen, Nicht-Glauben, Bagatellisierung, Leugnung, Schuldgefühle, Schuldumkehr, Wut, soziale Spaltung und soziale Ausgrenzung: So beschreibt die Studie zur "Wissenschaftlichen Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bistum Essen von 1958 bis heute" die Dynamiken in Gemeinden, in denen es zu sexualisierter Gewalt gekommen ist. Wie in den Gemeinden auf erwiesene oder mutmaßliche Taten ihres Pfarrers reagiert wird, erinnert an ähnliche Situationen in Familien, stellen die Wissenschaftler des Münchener Instituts für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) fest.
"Familie" ist ein Schlüsselwort in der Essener Studie und der Aspekt, den dieses Gutachten zu den vielen Vorgängern in anderen Diözesen ergänzt. "Pfarrfamilie" ist ein Schlagwort aus einer eigentlich schon längst vergangenen Zeit der Volkskirche, aus der Zeit gefestigter Milieus, die längst aufgebrochen und diversifiziert sind: Die Pfarrei nicht nur als ein System in der Gesellschaft, sondern als eng und emotional verbundene Gemeinschaft.
Die im vergangenen Jahr vorgestellte Münsteraner Missbrauchsstudie hatte das Phänomen der "Bystanders" ans Licht gebracht: potentielle Mitwisser, Zeugen, Vertreter von Institutionen und Vertrauenspersonen, die hätten handeln können, es aber nicht getan haben. Die Essener Studie wirft nun den Blick auf die Gemeinschaft dieser Bystanders und wie sie auf die Störung des Familienfriedens durch Missbrauch reagiert – und auf die Störung durch die Aufarbeitung von Missbrauch.
Missbrauch in der Gemeinde, Missbrauch durch den Pfarrer zumal, ist zunächst eine Störung, stellt die Studie fest: eine Störung der familiären Atmosphäre, etwas, das nicht sein darf – und deshalb nicht sein kann. Auf Vorwürfe reagieren viele der in der Studie beschriebenen Gemeinden mit Abwehr: Das kann doch nicht sein, unser Pfarrer, er hat doch so viel Gutes getan. In einem Fall demonstrieren Gemeindemitglieder vor dem Essener Generalvikariat für ihren Pfarrer, Briefe von Gemeindemitgliedern bis hin zur Ministrantengruppe an den Bischof werden zitiert. "Wir möchten ihnen von unseren Erfahrungen mit unserem Pastor berichten", schreibt die Messdienergemeinschaft 2007 an den damaligen Essener Bischof Felix Genn: "Wir trauen unserem Pastor die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen niemals zu. In unserer Gemeinde gab es nie Probleme oder Verdächtigungen dieser Art."
Kaum Solidarität mit Betroffenen
Von Solidarisierungen aus Gemeinden mit den Betroffenen berichtet die Studie dagegen kaum. Die engen familiären Strukturen in Kirchengemeinden sorgten für eine Sozialkontrolle. Zwar gebe es Gemeindemitglieder, die Hinweise an die zuständigen Stellen leiteten. Aus Furcht vor Ausgrenzung und Ächtung im Umfeld aber meist nur anonym. "Es ist durchgängig erkennbar, dass ein Großteil der Gemeindemitglieder, die Kenntnis von einem Vorwurf gegen einen Pfarrer bezüglich sexualisierter Gewalt bekommen, keinerlei Fokus auf Unterstützungsbedarfe möglicher Betroffener legen", heißt es im Fazit der Studie. Es zeige sich im Gegenteil, dass die Familien der Betroffenen sozial ausgegrenzt werden.
Auch die Essener Studie zeichnet Täterprofile charismatischer Priester, die als besonders engagiert, besonders begeisternd wahrgenommen werden, und die sich selbst mit ihrem Engagement unersetzbar machen. Kommt es dann doch zu Anschuldigungen, instrumentalisieren solche Priester ihr Charisma: "Kirchengemeinden erweisen sich als anfällig für Manipulationen beschuldigter Pfarrer." Nahezu durchgängig lasse sich feststellen, dass das Bekanntwerden eines Verdachts gegen einen Gemeindepfarrer dazu führt, dass sich ein Großteil der von ihm geleiteten Kirchengemeinde mit ihm solidarisiert. Vorwürfe werden bagatellisiert und abgestritten, um das Bild des guten Pfarrers und damit der guten Gemeinde zu schützen.
Bei der Pressekonferenz zur Vorstellung der Studie wies einer der geladenen Betroffenenvertreter, der Sprecher des Betroffenenbeirats bei der Bischofskonferenz Johannes Norpoth, darauf hin, dass diese Muster der Ausgrenzung von Betroffenen bis in die höchsten Laienkreise noch lange vorherrschten. Norpoth ist mittlerweile selbst Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Er geht aber davon aus, dass seine Zuwahl in die Vollversammlung des obersten Laiengremiums noch vor wenigen Jahren nicht möglich gewesen wäre: Die Laienvertreter hätten lange Missbrauch als Problem der Bischöfe gesehen und sich selbst als deren Gegenüber gesehen – als wären es nicht Laien die (so das Münsteraner Gutachten) als Bystanders oder (so das Essener) als Teil der auf den guten Schein und die Gemeinschaft bemühten Pfarrfamilie ihren Anteil an der Vertuschung und Bagatellisierung von Missbrauch hätten.
Reformbistum Essen kein Sonderfall
Der geschichtliche Ablauf des Umgangs mit Missbrauch unterscheidet sich im Bistum Essen ausweislich der neuen Studie nicht von dem in den anderen Bistümern, trotz des Selbstbilds des jungen Bistums, dass es dort anders, progressiver, agiler zugehe. Bis ins Jahr 2010 ist auch in Essen der Umgang mit Missbrauch von einer "nahezu ausschließlichen Institutions- und Täterorientierung" gekennzeichnet, stellen die Sozialwissenschaftler fest: "Man sah darin vor allem ein Personalproblem im Sinne mangelnder Disziplin. Den Tätern begegneten die Personalverantwortlichen fürsorglich, verständnisvoll und schützend." Bis zu diesem Jahr seien auch keine Bemühungen seitens des Bistums festzustellen gewesen, Betroffene zu unterstützen oder zu begleiten. Erst mit der Offenlegung des Missbrauchs am Berliner Canisiuskolleg änderte sich der Umgang auch in Essen ab 2010 zum Besseren.
Die Methode der Studie, Dynamiken in Gemeinden explizit zu untersuchen – neben der Aktenlage wurden auch Einzelinterviews und Gruppengespräche mit Zeitzeugen und Gemeindemitgliedern zugrunde gelegt –, zeigt deutlich, dass Klerikalismus, die Unangreifbarkeit von Priestern, ein Problem der ganzen Institution ist, die nicht nur aus der Hierarchie, sondern auch aus den Gemeindemitgliedern besteht. Sie legt auch offen, warum es regelmäßig dazu kommt, dass sich Gemeinden nicht mit Betroffenen, sondern mit Tätern und mutmaßlichen Tätern solidarisieren und anscheinend selbst kein Interesse an Aufarbeitung haben, wenn dadurch das Selbstbild der harmonischen Pfarrfamilie gestört wird. Zugleich fehle es an Unterstützung von Betroffenen und ihren Familien in ihren Gemeinden. Dieser Befund werfe schwerwiegende Fragen in Bezug auf die Funktionsweise des sozialen Systems Kirchengemeinde auf, "das in entscheidender Weise von seiner Identifikation mit seinem 'guten' Pfarrer lebt", so die Studie: "Die Idealisierung des geweihten, gottnahen Pfarrers stellt ein kulturelles Erbe der katholischen Glaubensorganisation dar und untergräbt – wie gezeigt werden konnte – die kritische Urteilsbildung von Gemeindemitgliedern in Situationen bedrohlicher Ungewissheit."
Ereigniswissen in den Gemeinden fehlt
Mit verantwortlich dafür sind nach Ansicht der Wissenschaftler unzureichende Kommunikationskonzepte: "Bis in die jüngste Vergangenheit hat sich die Informationspolitik des Bistums Essen im besten Fall darauf beschränkt, Sanktionen gegen einen beschuldigten Pfarrer in der Gemeinde zu verkünden." Es fehlt an "Ereigniswissen" in der Gemeinde, um Handlungen einschätzen zu können: Eine Sanktion trifft auf Erfahrungen mit der jeweiligen Person, die damit nicht in Einklang zu bringen sind. Das führe zu einer Verschärfung von Spaltungen innerhalb der Gemeinde (hier die Kerngemeinde, da "Nestbeschmutzer") wie im Bistum (hier "unser Pfarrer", da "die da oben") – und das über lange Zeit: "Weil sie im Unklaren darüber gelassen werden, 'was Sache ist', positionieren sich viele Gemeindemitglieder auch Jahrzehnte nach den in Frage stehenden Vorfällen auf der Seite des 'guten Pfarrers', der angeblich zu Unrecht verunglimpft wird", heißt es in der Studie.
„Das Bistum Essen hat das konkrete und umfassende Ereigniswissen, das ihm von Seiten Betroffener oder deren Familien zur Verfügung gestellt wurde, zu keiner Zeit genutzt, um destruktive Gemeindedynamiken abzumildern.“
Die Wissenschaftler machen Angst vor rechtlichen Konsequenzen als eine Ursache für die unzureichende diözesane Kommunikationspolitik verantwortlich. Das Bistum sei, um sich abzusichern, "in einen Sprachduktus verfallen, der Spekulationen genährt und Ungewissheiten vergrößert hat". Weder sei das Ereigniswissen von Betroffenen genutzt noch die Gemeinde über den Fortschritt von Verfahren informiert worden: "Offenbar ist man nie auf die Idee gekommen, dass man Gemeinden ohne rechtliches Risiko darüber informieren kann, dass bestimmte Anschuldigungen erhoben wurden und dass bestimmte Verfahren laufen, ohne dass man zugleich behaupten muss, dass jemand ein 'Täter' oder 'Missbraucher' ist."
Im Vergleich zu juristischen Gutachten, die Namen und Pflichtverletzungen nennen und aufzählen, kann die in der Essener Studie gewählte Methodik mit Blick auf Einzelfallgerechtigkeit wenig leisten. Selbst der Fokus auf sechs exemplarische Fallanalysen kann daran nichts ändern. Der Fall des mittlerweile laisierten Priesters H., der auch im Münchner Gutachten eine prominente Rolle spielt und besonders deutlich die Unantastbarkeit von Klerikern zeigt, wird zwar ausführlich geschildert. Aber auch diese Schilderungen tragen weniger zur Analyse individueller Verantwortung als zum strukturellen Verständnis bei.
Das wurde auch vom Betroffenenvertreter Norpoth angesprochen. Er könne die mögliche Kritik von Betroffenen daran verstehen. "Wenn aber die Datenlage eine wirklich umfassende, juristische Aufarbeitung nur schwer möglich macht, wenn die römischen Hierarchieebenen entgegen den Studienergebnissen entscheiden und Verantwortliche nicht zur Rechenschaft ziehen, dann verkommt der gute Ansatz einer juristischen Studie zur Farce", stellt Norpoth mit Verweis auf das zweite Kölner Gutachten mit seinem explizit juristischen Vorgehen fest.
Der soziologische Blick auf die Dynamiken sich familiär empfindender Gemeinden wirft aber ein Licht auf die sozialen Ermöglichungsbedingungen von Missbrauch, der bisher fehlte. Neben dem Münsteraner Gutachten ist das Essener das, das sich am wenigsten eignet, um als Gemeindemitglied die Verantwortung von sich zu weisen. Die Benennung der Dynamiken des Bystandertums und der Wagenburgmentalität in familiären Gemeinschaften kann dabei nur ein erster Schritt sein. Als Sozialwissenschaftler können die Autoren der Studie die Forderung nach mehr Kommunikation von Ereigniswissen gut aufstellen. Aber auch die juristischen Bedenken sind nachvollziehbar: Eine transparentere Kommunikation über Vorwürfe setzt Beschuldigte immer dem Risiko einer Vorverurteilung aus und lässt faktisch von einer Unschuldsvermutung nur wenig übrig, die Institution selbst macht sich dadurch rechtlich angreifbar. Die Übersetzung der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis über Dynamiken in Gemeinden in ein rechtlich verantwortbares Kommunikationskonzept dürfte eine der größten Herausforderungen sein, vor der jetzt nicht nur das Bistum Essen steht.
Aufgaben kommen aber auch auf die Gemeinden selbst zu, auf Pfarrgemeinderäte, Verbände und ihre Dachorganisationen: Präventionskonzepte wurden schon flächendeckend etabliert. Eine konsequente Betroffenenorientierung, die Bereitschaft, auf unbequeme Offenbarungen über "Familienmitglieder" nicht pauschal abwehrend zu reagieren, sind wohl noch schwieriger zu etablieren als Pflichtschulungen für Haupt- und Ehrenamtliche.
Die vollständige Studie ist online verfügbar
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In der "sozialwissenschaftlichen Aufarbeitungsstudie zur Aufarbeitung sexualisierte Gewalt im Bistum Essen von 1958 bis heute", geht es um sexuelle Gewalt und sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im Bistum Essen. In dieser Studie werden Missbrauchserfahrungen detailliert beschrieben und mit Interviews von Betroffenen, Zeitzeugen und Tätern belegt.