Experte fordert stärkere staatliche Rolle bei Missbrauchsaufarbeitung
Nach der Vorstellung der Missbrauchsstudie des Bistums Essen fordert die bundesweite unabhängige Aufarbeitungskommission eine stärkere staatliche Beteiligung bei der Aufklärung von sexuellem Missbrauch. Es dürfe nicht dem Willen eines Bistums oder einer Organisation überlassen bleiben, ob eine unabhängige Aufarbeitung stattfinde, sagte der Sozialpsychologe Heiner Keupp als Mitglied der Kommission am Dienstag auf Anfrage in Berlin. Deshalb müsse der Staat eine größere Rolle in Aufarbeitungsprozessen einnehmen. Dafür sei ein rechtlicher Rahmen unumgänglich. Es brauche deshalb eine gesetzliche Grundlage auch für die Aufarbeitungskommission des Bundes.
Das katholische Bistum Essen stellte die Studie am Dienstagvormittag vor. Demnach gibt es dort wesentlich mehr Betroffene sexualisierter Gewalt und Täter als bisher bekannt. Seit der Gründung vor 65 Jahren sind mindestens 423 Fälle und Verdachtsfälle bekannt. Weiter sind insgesamt 201 Personen beschuldigt, darunter 129 Geistliche und 19 Ordensfrauen.
Keupp erklärte weiter, es müsse auch ein Recht für Betroffene auf Aufarbeitung gesetzlich verankert werden, das Zugang zu Akten, Auskunft durch die Institution sowie Angebote zur Beratung und Begleitung im Rahmen der individuellen Aufarbeitung von Betroffenen vorsehe.
Mehr als nur Zahlen
Zugleich würdigte Keupp die Methode des Essener Gutachtens. Die Studie liefere mehr als nur Zahlen zu Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs und juristische Aufklärung. Sie untersuche auch soziologische Zusammenhänge und beziehe Betroffene in die wissenschaftliche Aufarbeitung ein. Damit richte die Studie den Blick weit über die Taten und Täter hinaus und leiste auch einen Beitrag zur Anerkennung des erlittenen Unrechts. So seien etwa erstmals auch die Folgen des Umgangs mit Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs in den Kirchengemeinden untersucht worden. Die Leitung des Bistums habe erkannt, wie wichtig eine neue Form von Offenheit für den Umgang von Institutionen mit sexualisierter Gewalt sei, so Keupp.
Die bundesweite unabhängige Aufarbeitungskommission gibt es seit 2016. Sie soll Ausmaß und Folgen von Kindesmissbrauch in Deutschland untersuchen. Aufgabe ist es, bundesweit Betroffene anzuhören und deren Berichte sowie Dokumente von Institutionen auszuwerten.
Eine der "schrecklichsten Konstellationen, die man sich vorstellen kann"
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) appellierte an die Kirchen, sich beim Thema Missbrauch den "schmerzhaften Fakten" zu stellen. Nur wenn eine transparente Aufarbeitung stattfinde, könnten auch neue Taten verhindert werden. Erst dann bestehe eine Chance, dass die Kirchen Vertrauen zurückgewinnen könnten. Er bezeichnete Missbrauch in kirchlichem Zusammenhang als eine der "schrecklichsten Konstellationen, die man sich vorstellen kann". Der Minister ist selbst Katholik und stammt aus dem Bistum Essen.
Der Justizminister betonte, dass eine strafrechtliche Aufarbeitung stattfinden müsse – neben anderen Formen der Aufarbeitung. Dabei gebe es für die Kirchen keinen Schonraum. Er höre immer wieder, dass die Staatsanwaltschaften dort angeblich nur eingeschränkte Befugnisse hätten. Buschmann: "Das ist mitnichten so." Der Staat habe eine Aufklärungspflicht, alle rechtlichen Instrumente anzuwenden, da gebe es keine Sonderprivilegien für die Kirchen. Er erwarte von den Kirchen als großen Organisationen, "die auch eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen", dass sie sich selbstkritisch fragten, wie es zu den Taten gekommen sei und wie es sein könne, dass diese zum Teil über Jahre lange unentdeckt blieben. Wenn man den Eindruck gewinne, dass keine ernsthafte Aufarbeitung stattfinde, dürften die Kirchen oder andere Institutionen sich nicht wundern, wenn etwa im Parlament über weitergehende Maßnahmen wie etwa eine Kommission diskutiert werde.
Christian Toussaint, Vorsitzender des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) im Bistum Essen, forderte gegenüber dem "Neuen Ruhrwort" deutlich mehr Unterstützung für die Gemeinden bei der Präventionsarbeit. Entsprechende Konzepte dürften nicht nur in den Schubladen liegen, sondern müssten auch im Alltag umgesetzt werden. "Hier erleben wir im Kontakt mit der Amtskirche noch zu oft, dass dies nicht ausreichend geschieht", kritisierte Toussaint. Er sehe eine "Überforderung von ehrenamtlichen Strukturen mit diesem Thema". (mpl/KNA)