Der Priester ist auch nur ein Mensch – und kein "Indianer-Häuptling"
Fachkräftemangel herrscht schon lange in der Kirche. Besonders beim Priesternachwuchs. Viele Initiativen in Bistümern und von Seiten römischer Dikasterien, einschließlich der Bestürmung Gottes in diversen Gebetsjahren für Priesternachwuchs, blieben weitgehend – zumindest in weiten Teilen Europas und Südamerikas – ohne Ergebnis. Warum? Unter anderem, weil das Amt des Priesters überfrachtet ist mit Sakralisierung und Auratisierung. Diese Überfrachtung von Menschsein durch das kirchliche Amtsverständnis überfordert die Männer, die diesen Beruf ergreifen. Das ist die Ausgangsthese dieses Beitrags. Um sie zu vertiefen und zu begründen, möchte ich zu einem etwas ungewöhnlichen Vergleich greifen.
Kinder spielen gern Indianer. Sie verkleiden sich zum Beispiel als Apachen-Häuptling Winnetou einschließlich Federschmuck, Tomahawk und Pfeil und Bogen, besonders gern natürlich im Karneval. Sie schlüpfen voll und ganz in die Rolle des von Karl May erfundenen Indianer-Häuptlings. (Ich verwende hier deshalb bewusst nicht den sachlich korrekten Begriff "indigener Ureinwohner des amerikanischen Kontinentes", weil es in der Argumentation eben nicht darum geht, die realen Verhältnisse eines solchen Häuptlings zugrunde zu legen. Seine Idealisierung als des gerechten und für die gute Sachen zum Sterben bereiten Mannes zu zeichnen, darum geht es mir hier.) Entwicklungspsychologisch betrachtet haben solche Rollenspiele für Kinder eine enorm wichtige Funktion. Sie wachsen mental im Rollenspiel. Sie phantasieren eine Welt als Erwachsene. Das Spiel wird also zum Übungsfeld für später.
Der Priester ist in gewisser Hinsicht vergleichbar mit dem idealisierten Bild eines Indianer-Häuptlings. Besonders Winnetous Schicksal lässt sich wahrscheinlich nicht zufällig mit dem von Jesus vergleichen. Karl May kannte die Kultur der Indigenen von Amerika ebenso wenig wie ihm möglicherweise seine eigene kulturelle Verwurzelung im christlich geprägten europäischen Kontext bewusst war. May hat also eine völlig freie, aber intuitiv perfekte Komposition von Menschsein "at its best" vorgenommen, mit der sich jedes Kind gut identifizieren kann.
Priester schlüpfen auch in eine Rolle: Sie performen Jesus im Gottesdienst
Wie einem Kind mit Winnetou, so geht es in gewisser Weise auch dem Priester mit Jesus. Priester schlüpfen auch in eine Rolle: Sie performen Jesus im Gottesdienst. Für diesen Zweck "verkleiden" sie sich als Jesus und identifizieren sich mit ihm. Wer das übertrieben findet, der lese die umfangreichen Bestimmungen zum Priesteramt im CIC, dem Gesetzbuch der katholischen Kirche (can. 232-293) und den Text des Zweiten Vatikanischen Konzils in "Lumen gentium" (10) zu diesem Thema: Die Priesterweihe entnimmt den Mann dem gemeinen Volk der Laien und versetzt ihn in eine andere Wesenheit, die von der der Laien kategorisch unterschieden ist. Mit der Weihe wird ein gewöhnlicher Mann mit einem Charisma ausgestattet, das ihm von Amts wegen verliehen wird. Mit solchem Amtscharisma versehen, handelt er in persona Christi, also an Jesu Christi statt. Wenn er das "Kostüm" des Messgewandes nicht trägt, ist er dennoch gehalten, mit seiner Alltagskleidung stets als Priester erkennbar zu sein (CIC, can 284). Nie darf er also seine Rolle verlassen.
„Priester, die mit der Zeit bemerken, dass sie der Aufladung mit Aura und Charisma, die sie mit der Weihe 'empfangen', menschlich nicht standhalten, werden oft genug darüber krank.“
Der entscheidende Unterschied zum Spiel des Kindes ist folgender: Während dieses irgendwann das Spiel beendet und wieder zu dem 10-jährigen Kind wird, das es in Wirklichkeit ist, sind Priester gehalten, immer in der Haltung in persona Christi zu bleiben. Tief in sich wissen die meisten natürlich, dass sie nicht diese Rolle sind, dass ihr eigentliches Sein als Mensch und Mann auch ein anderes ist. Priester, die mit der Zeit bemerken, dass sie der Aufladung mit Aura und Charisma, die sie mit der Weihe "empfangen", menschlich nicht standhalten, werden oft genug darüber krank. Im besten Falle lehnen sie den Zugriff des Amtes auf ihr ganzes Menschsein ab und verbinden sich außerhalb ihrer klerikalen Funktionen mit ihrer gewöhnlichen Menschlichkeit. Dann bleiben sie gesund und sind sympathische Dilettanten des Menschseins wie alle anderen auch.
Zum Glück gibt es genug Priester, die selbst im Amtsornat als Mensch spürbar bleiben. Und das macht sie sympathisch und authentisch. Darauf zielt wohl auch die Papst Franziskus zugeschriebene Äußerung bei seiner "Einkleidung" in der Kapelle, der Karneval sei vorbei, mit der er die ihm angebotenen Insignien seiner neuen Machtfülle abgelehnt haben soll und stattdessen nur die einfache, weißen Soutane anzog. Wenn die Geschichte erfunden wäre, scheint sie aber zu seiner Mentalität zu passen: er will Hirten, die nach Schaf riechen (ein weiteres von ihm stammendes, für viele Amtsträger schwer erträgliches Bild). Ich würde ergänzen: sie sollen doch bitte auch nach sich selbst riechen.
Aber es muss festgestellt werden: das Amtscharisma, das mit der Weihe verliehen wird, erlaubt diese Art von Authentizität nicht wirklich. Es kennt auch nicht die vielen subjektiven Interpretationen eines persönlichen Amtsverständnisses, die vielfach vorgenommen werden und damit ein zufriedenes und kohärentes Dasein als Priester ermöglichen. Alle solche individuellen Anpassungen sind aus dogmatischer Sicht ein Verrat am Amtsverständnis und müssen sogar strenggenommen als Schisma bezeichnet werden, so sehr hat die katholische Kirche sich mit dieser überstrapazierten Interpretation der Dreiämterlehre über Jesus Christus als König, Prophet und Priester verbunden. Einmal Indianer, immer Indianer, um es etwas vereinfacht auf den Punkt zu bringen.
Jesus Christus als die Personifikation des moralisch vollkommenen Königs
Die entscheidenden theologischen Argumente gegen diese Überhöhung des Priesteramtes sind zweifacher Natur. Das erste ist ein echt theologisches Argument. Es reicht vollkommen aus, Jesus Christus selbst als die Personifikation des moralisch vollkommenen Königs, des prägnantesten Propheten und des dienstbarsten Priesters zu sehen. Mehr braucht es nicht zur Verkörperung von "Menschsein at its best". An ihm kann sich die gesamte Kirche, alle ihre Glieder ausrichten. Diejenigen innerhalb der Kirche, die durch theologische Kenntnisse, spirituelle Praxis und die Gabe, Menschen zur Koinonia zusammenzuführen, ausgezeichnet wurden, richten sich an diesem Ideal von Menschsein aus, einem Ideal, das auf das Sein Gottes schließen lässt. Mehr Vorbild brauchen wir nicht.
„Frauen sollten sich gut überlegen, ob sie in das bestehende Amtsverständnis "hineingeweiht" werden wollen.“
Das zweite Argument ist ein soziologisch-strategisches, aber dann doch ein eminent pastoral-praktisches. Das "In-persona-Christi-Sein" des Priesters passt nicht in die Zeit. Die wenigsten Christ*innen glauben noch an die Besonderheit des Priester-Mannes. Der prägnanteste Beweis für die inhaltliche Überdehnung der Lehre von der Wesensverschiedenheit des Priesters hat tatsächlich der Missbrauchsskandal sichtbar gemacht, so unrecht die Sippenhaft den vielen integren Priestern gegenüber auch ist. Dass aber sakralisierte Priester nicht durch ihre Weihe immun gegen die Möglichkeit sind, zum Verbrecher zu werden, hat der Skandal überdeutlich werden lassen. Allein schon um der Glaubwürdigkeit der Kirche willen muss die kirchliche Lehre deshalb abrüsten beim Amtsverständnis des Priesters. Sie müsste vor allem wahrnehmen und "lehren", was immer schon alle wussten: Der Priester ist auch nur ein Mensch – und kein "Indianer-Häuptling".
Und was die "Frauenfrage" innerhalb der Kirche betrifft: Die Forderung nach dem Weiheamt für Frauen ist theologisch vielfältig begründet und somit selbstverständlich vor allem eine Frage der Geschlechtergerechtigkeit. Aber selbst wenn morgen die Kirche das Weiheamt für Frauen öffnete – und sei es nur im ersten Schritt für das Diakonat: Frauen sollten sich gut überlegen, ob sie in das bestehende Amtsverständnis "hineingeweiht" werden wollen. Sollte sich am Amtsverständnis nichts ändern, wäre für die Zukunftsfähigkeit der Kirche zu wenig gewonnen.
Der Autor
Dr. Andreas Heek ist Leiter der Arbeitsstelle Männerseelsorge und Männerarbeit in den deutschen Diözesen in Düsseldorf und vertrat 2022/2023 den Lehrstuhl für Pastoraltheologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.