Als eine Konsequenz aus der Essener Missbrauchsuntersuchung

Priesterausbildung: Mehr Klarheit beim Sprechen über Sexualität nötig

Veröffentlicht am 25.02.2023 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Essen ‐ Immer wieder haben kirchliche Amtsträger die Augen vor sexuellem Missbrauch verschlossen. Das liegt auch an begrifflichen Ungenauigkeiten, wenn es um Zölibatsverstöße und sexuelle Gewalt geht, wie die jüngste Studie für das Bistum Essen zeigt.

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Mit seinen 65 Jahren zählt das Bistum Essen zu den jüngeren Diözesen in Deutschland. In dieser Zeitspanne sind dem Ruhrbistum 201 Mitarbeiter bekannt geworden, denen sexuelle Übergriffe oder sogar Missbrauch vorgeworfen wurde. Die meisten der Beschuldigten, beinahe zwei Drittel, waren Kleriker. Diese Unwucht überrascht, denn in den Pfarrgemeinden – einem der Haupttatorte – waren und sind viel mehr Laiinen und Laien tätig als geweihte Männer. Sie arbeiten haupt- und ehrenamtlich etwa als Pfarrsekretärin, Kirchenmusiker und Jugendgruppenleiterin.

Insgesamt betrachtet macht die Gruppe der Beschuldigten unter den Klerikern zwar nur einen kleinen Teil aus. Dennoch: Sobald es um Missbrauch in der katholischen Kirche geht, steht immer wieder die Frage im Raum, warum sich ausgerechnet geweihte Männer an Minderjährigen vergehen. Hat es mit der priesterlichen Lebensweise und dem Gebot zur Ehelosigkeit zu tun? Würde es weniger Missbrauch geben, wenn die Kirche den Zölibat abschaffen würde?

Priesterseminare als "eigenwillige Sozialisationsmilieus" 

"Das ist ein großer Kurzschluss, der so nicht stehengelassen werden kann", weist Sozialwissenschaftlerin Helga Dill vom Münchner Institut IPP derartige Überlegungen zurück. Zusammen mit dem Institut Dissens haben Dill und ihr Team im Auftrag des Ruhrbistums eine Aufarbeitungsuntersuchung über sexuelle Gewalt in der Diözese erstellt. Die Studie legt weniger einen Schwerpunkt auf juristische und kirchenrechtliche Verantwortlichkeiten und nimmt stattdessen die Strukturen in den Blick, die Missbrauch ermöglichten. Anhand von sechs Beispielfällen zeichnen die Forschenden nach, wie unzureichend das Bistum etwa bis zum Jahr 2010 auf Verdachtsfälle reagierte und welche Vertuschungsdynamiken in Pfarrgemeinden entstanden, die von Missbrauchsfällen betroffen waren.

Ein eigenes Kapitel ist dem Thema Priesterausbildung gewidmet. Als "eigenwillige Sozialisationsmilieus" werden Priesterseminare bezeichnet. Jungen Männern könnten dort wichtige alltagspraktische, soziale und emotionale Erfahrungen vorenthalten werden, warnen die Forschenden. Es bestehe die Gefahr einer Überkompensation: Mögliche persönliche Defizite stünden dann einer narzisstischen Aufwertung durch die Weihe zum Priester gegenüber. Bis in die 1980er Jahre hinein habe in der Priesterausbildung in Bezug auf Sexualität und sexualisierte Gewalt Sprachlosigkeit geherrscht, führt Malte Täubrich vom Institut Dissens aus. Der Zölibat sei theologisch gesetzt worden, ohne seine psychologischen und sozialen Voraussetzungen zu thematisieren.

Bild: ©KNA/Andre Zelck

Bei der Vorstellung der Untersuchung in Essen am 14. Februar sagte Bischof Franz-Josef Overbeck zu, auch die Priesterausbildung in den Blick zu nehmen.

Mitte der 1990er Jahre änderte sich laut Studie die Lage: Weil immer mehr junge Männer ihre Priesterausbildung wegen einer Liebesbeziehung abbrachen, sollten die Kandidaten künftig besser auf den Zölibat vorbereitet werden. Das Thema Sexualität wurde psychologisiert. Die Priesterausbildung sollte jetzt zur "menschlichen Reifung" beitragen. Was das genau bedeutet, blieb der Untersuchung zufolge aber oft im Unklaren.

Über all die Jahre zeichnete sich das Bistum Essen durch eine relativ hohe Liberalität aus, wie Täubrich weiter erklärt. Will heißen: Wenn ein Priester gegen den Zölibat verstieß, drückten die Kirchenoberen schon mal ein Auge zu. Auf eben diesem Auge waren die Amtsträger jedoch auch blind, wenn es nicht um einvernehmlichen Sex sondern um einen Übergriff ging. So sei sexualisierte Gewalt im Bistum Essen etwa bis zur Jahrtausendwende sozusagen toleriert worden, sagt Täubrich.

Bischof Overbeck will Priesterausbildung in den Blick nehmen

Seit Herbst 2012 werden die Kandidaten der Ruhrdiözese im Priesterseminar in Münster, dem Borromaeum, ausgebildet. Dem Leitungs- und Lehrpersonal empfehlen die Forschenden unter anderem mehr Klarheit beim Sprechen über Sexualität und Missbrauch. Die Ausbilder müssten unzweideutig zwischen sexualisierter Gewalt, Homosexualität und Zölibatsbruch unterscheiden. "Solange sexualisierte Gewalt als eine von mehreren Formen 'unerlaubter Sexualität' in den allgemeinen Bereich des Sexuellen verortet wird, werden längst identifizierte Risikofaktoren für sexualisierte Gewalt innerhalb der katholischen Kirche immer wieder neu reproduziert", heißt es in der Studie.

Bei der Vorstellung der Untersuchung in Essen am 14. Februar sagte Bischof Franz-Josef Overbeck zu, auch die Priesterausbildung in den Blick zu nehmen. Auf dem Podium der Pressekonferenz äußerte sich neben ihm auch der Missbrauchsbetroffene Stephan Bertram. Er möchte dafür sorgen, dass Priesteramtskandidaten sowie bereits ausgebildete Geistliche ein Bewusstsein dafür entwickeln, was Missbrauch genau bedeutet. Seine Geschichte will er demnächst im Priesterrat erzählen. Zudem müsse es Vorträge vor Priesteramtskandidaten als Teil der Ausbildung geben, fordert Bertram. "Man sieht, dass wir Betroffene immer noch nicht ernst genug genommen werden."

Von Anita Hirschbeck (KNA)