Vom Konzil von Nicäa bis zur Gegenwart

Wie das Christentum die Zeitrechnung beeinflusste

Veröffentlicht am 26.02.2023 um 11:50 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Dass sich die Zeitrechnung an einem Punkt mitten in der Geschichte ausrichtet, scheint erstmal ungewöhnlich. Doch Christi Geburt als Anker hat sich überall auf der Welt durchgesetzt. Bis es so weit war, dauerte es viele Jahrhunderte. Ein schmächtiger Mönch spielte dabei eine entscheidende Rolle.

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Wer hat an der Uhr gedreht – bei diesen Worten haben die meisten wahrscheinlich schon einen Ohrwurm. Bezogen auf die Zeitrechnung lautet die Antwort ganz klar: Es war das Christentum. Schließlich ist es die Geburt Jesu, an der sich heute die Weltzeit ausrichtet. Ob Gläubige oder Atheisten, Juden, Christen oder Muslime: Geht es um internationalen Handel oder Verkehr, um Geschichtsschreibung oder Medien, folgt man überall auf der Erde der christlichen Zeitrechnung.  

Wo liegt der Anfang der Zeit?

Doch das war nicht immer so. "In früheren Jahrtausenden versuchten die Menschen, die Zeit von der Erschaffung der Welt an zu rechnen", sagt Hans Maier. Die Zeitrechnung ist so etwas wie das Hobby des 91-jährigen früheren Vorsitzenden des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), über das der Politikwissenschaftler auch ein Buch geschrieben hat. "Doch das hatte seine Tücken, denn es kam schnell zu Unstimmigkeiten darüber, wo dieser Anfang wohl genau lag." Die Vorstellungen lagen bisweilen mehrere Jahrhunderte auseinander. Die christliche Idee eines Ankerpunkts der Zeit mitten in der Geschichte war da viel praktischer. Denn von Christi Geburt lässt sich problemlos nach vorn oder zurück rechnen, um einen beliebigen Zeitpunkt präzise zu bestimmen.

Podcast: Wie die Kirche die Zeitrechnung beeinflusst hat

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Die Zeitrechnung orientiert sich nicht etwa am Anfang der Zeit, sondern an einem Datum mitten der Geschichte: Jesu Geburt. Das mag absurd klingen, hat neben der religiösen Bedeutung aber auch praktische Vorteile. Mathematisch kompliziert bleibt die Zeiteinteilung dennoch.

Audio: © Gabriele Höfling

Bis sich die christliche Zeitrechnung jedoch etablierte, dauerte es Jahrhunderte. Ein erster Schritt war im Jahr 321 die Anerkennung des Christentums als Staatsreligion im römischen Reich. Der Ruhetag war fortan nicht mehr der Samstag oder Schabbat wie im Judentum, sondern der Sonntag. Der Jahreslauf war mehr und mehr geprägt durch die christlichen Feste – allen voran Weihnachten, Ostern oder Pfingsten. Während die Feier der Geburt Jesu ihren Termin jedes Jahr am 25. Dezember hat, wandert der Ostertermin – und damit auch die Fastenzeit oder das Pfingstfest – im Kalender hin und her. Über 30 mögliche Ostertermine gibt es zwischen dem 22. März und dem 25. April. In diesem Jahr liegt er etwa in der Mitte, am 10. April. Die Festsetzung des Ostertermins auf den ersten Sonntag nach dem ersten Vollmond im Frühling war ein weiterer Pflock in der Entstehung der christlichen Zeitrechnung. Beschlossen wurde er 325 auf dem Konzil von Nicäa. Der Hintergrund: Laut Neuem Testament ereignete sich die Auferstehung Jesu während des jüdischen Pessachfestes, das ebenfalls vom Frühjahrsvollmond abhängig ist.

Doch erst rund 200 Jahre später wurde die eigentliche christliche Zeitrechnung begründet. Der einflussreiche Mönch Dionysius Exiguus gehörte zu den Gelehrten, die in einem aufwändigen Verfahren die beweglichen Ostertermine der kommenden Jahre berechneten. Im Jahr 525 schlug er vor, die Zeitrechnung künftig an der Christi Geburt auszurichten und versah schlicht das erste Jahr danach mit einer 1. "Der Beiname Exiguus bedeutet ‚der Kleine‘ oder ‚der Schmächtige‘", erklärt Hans Maier schmunzelnd. "Aber dieser kleine schmächtige Mann hat die Zeitrechnung bis heute maßgeblich bestimmt". Der endgütigen Verbreitung verhalf der christlichen Zeitrechnung dann rund um das 17. Jahrhundert ausgerechnet die eigentlich doch eher religionsferne Aufklärung, deren Vertreter die Logik und Genauigkeit aufgrund der Orientierung an einem bestimmten Zeitpunkt schätzten.

Doch zuvor waren Kalenderreformen vonnöten, um die Zeitrechnung weiter zu präzisieren. Die Gründe liegen in der Astronomie: Das Problem ist der Zeitraum, in dem sich die Erde um die Sonne dreht und der das Jahr bestimmt, und der Zeitraum, im dem sich die Erde um sich selbst dreht und der den Tag bestimmt. Beide stehen in einem ungeraden Verhältnis zueinander, lassen sich also nicht glatt durcheinander teilen. Der Schriftsteller Friedrich Dieckmann fasst das so zusammen: "Das Problem ist, dass die Erde, als sie anfing, sich einerseits um die Sonne und andererseits um sich selbst zu drehen, versäumte, ihre verschiedenartigen Umläufe in ein geradzahliges Verhältnis zu setzen. Sie handelte kalendarisch rücksichtslos". Je unpräziser das System der Zeitrechnung, desto größer die Differenzen zwischen Tagen und Jahren, die sich über die Zeit ansammeln. Die letzte große Kalenderreform geht auf Papst Gregor XIII. zurück, der 1582 den heute noch verbreiteten gregorianischen Kalender einführte. Die jährliche Zeitdifferenz beträgt nun noch knapp sechs Stunden. Aufgefangen wird das durch einen Schalttag alle vier Jahre.

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Video: © Alpha Entertainment

Zeit: Meist hat man zu wenig davon. Und wenn man ausnahmsweise mal zu viel davon hat, ist man mit der aufkommenden Langeweile auch nicht zufrieden. Welchen Stellenwert Zeit für den modernen Menschen hat und wie man sie nutzen sollte, erläutert Pfarrer Christian Olding.

Natürlich gab es auch Versuche, der christlichen Zeitrechnung etwas entgegenzusetzen. Nach der Reformation wollten protestantische Gebiete der gregorianischen Reform zunächst nicht folgen. Später versuchten Anhänger der französischen Revolution eine Zehn-Tage-Woche einzuführen. Auch Lenin war Anhänger einer so gegliederten Zeit mit weniger Ruhetagen. Während der Zeit des Nationalsozialismus, als Hans Maier zur Schule ging, wurde wenig elegant von "vor der Zeitrechnung" und "nach der Zeitrechnung" gesprochen, um den Bezug auf Jesus und das Christentum zu vermeiden. Schlussendlich konnte sich bisher aber keines der Alternativmodelle durchsetzen.

Zeit schreitet unaufhaltsam einem Ende zu

Das liegt möglicherweise auch daran, dass das Christentum nicht nur die rein quantitative Zeitrechnung beeinflusste, sondern auch die qualitative Wahrnehmung von Zeit. In der Antike war die Vorstellung von Zeit die eines immerwährenden Kreislaufs ohne Anfang, Ende oder Ziel. Mit der Verbreitung des Christentums wurde Zeit in der menschlichen Vorstellungswelt plötzlich zu etwas Kostbarem, das unaufhaltsam auf ein Ende zuschreitet. "Aus diesem Gefühl der Endlichkeit ist eine völlig neue Kultur der Lebensgestaltung erwachsen. Das reicht vom Stundengebet der Mönche bis zum Kalender der Kaufleute; vom altchristlichen ‚Bete und Arbeite‘ bis zum modernen Countdown", erklärt Maier. Auch das demokratische Prinzip, politische Herrschaft auf fest kontrollierbare Zeiträume zu beschränken, habe mit dieser christlichen Vorstellung zu tun. 

Wird die christliche Zeitrechnung bleiben – auch im Zeitalter einer fortschreitenden Säkularisierung? Dafür spricht laut Maier, dass sie mit dem Sonntag als Ruhetag auch eine soziale Komponente hat, die aufzuheben wohl recht schwer durchzusetzen wäre. Außerdem ist sie eben kein monotoner Kreislauf, sondern mit ihren beweglichen Komponenten wie ein "funkelndes und tingelndes Karussell" – so hat es der Historiker Peter Rück einmal ausgedrückt. Hans Maier findet die christliche Zeitrechnung deswegen schlicht schön. Und es spricht einiges dafür, dass zumindest in absehbarer Zeit erstmal niemand nachhaltig an der Uhr drehen wird.

Von Gabriele Höfling