Theologe: Von einem asketischen Leben war Jesus weit entfernt
Die österliche Gemeinde der ersten Tage war in eine Gesellschaft eingebettet, in der Fasten und Askese eine wichtige Rolle spielten. Dieser Einfluss bliebt nicht ohne Folgen – bis hin zu teilweise extremen Blüten des Verzichts in der Geschichte des Christentums. Wie sich das Fasten entwickelte und was eigentlich hinter dem Verzicht auf Fleisch oder Alkohol steckt: Der Erfurter Neutestamentler Thomas Johann Bauer gibt im Interview Antworten.
Frage: Herr Professor, wie hat es Jesus selbst mit dem Fasten gehalten?
Bauer: Jesus war Jude und hat als solcher die jüdischen Traditionen gelebt. Von daher ist nicht auszuschließen, dass er gefastet hat. Die Bibel berichtet von 40 Tagen Fasten und Beten in der Wüste – wobei das eher legendarisch als historisch zu verstehen ist. Generell war Jesus von einem asketischen Leben weit entfernt. Sowohl im Lukas- als auch im Matthäus-Evangelium ist der Vorwurf überliefert, er sei ein Fresser und Säufer.
Frage: Also hat er auch seine Jünger nicht zum Fasten aufgerufen?
Bauer: Nein. Das Judentum versteht Fasten als einen Akt der Trauer und der Buße. Jesus hat sich aber als Bote der nahenden Gottesherrschaft verstanden. Ihm ging es also nicht um Trauer, sondern im Gegenteil um die frohe Botschaft! Der Freude darüber verleiht Jesus Ausdruck im gemeinsamen Mahl, das er auch mit Benachteiligten oder Ausgegrenzten teilt, zum Beispiel Zachäus dem Zöllner.
Fragen: Warum hat sich das Fasten im Christentum durchgesetzt, obwohl es Jesus gar nicht so wichtig war?
Bauer: Die österliche Gemeinde der ersten Tage fand sich in einer jüdischen und heidnischen Umwelt wieder, in der Fasten und Askese eine wichtige Rolle spielten. Hinzu kam die Erfahrung, dass das Heil, das Jesus versprochen hatte, erst in der Zukunft erwartet wird. Mit der Auferstehung Jesu sind die Christen noch nicht im Reich Gottes, sondern weiter an die irdische Existenz gebunden. Durch das Fasten bereiten sie sich auf das erwartete Wiederkommen Jesu und die eigene Auferstehung vor.
Frage: Wie unterscheidet sich das Fasten im Christentum von anderen Religionen?
Bauer: Wie gesagt: Die meisten Religionen kennen das Fasten als Ausdruck von Reue, Umkehr und Trauer. Im Judentum wird am Hauptfasttag Tischa beAv an insgesamt fünf Unglücke erinnert, darunter etwa die Zerstörung Jerusalems im zweiten vorchristlichen Jahrhundert. Im Christentum geht es beim Fasten eher um die positive Ausrichtung auf Jesus Christus. Unterschiede zeigen sich aber auch in der konkreten Fastenpraxis der Gegenwart. Der Islam kennt zwar auch wie das Christentum eine feste Fastenzeit. Der Ramadan ist aber ganz anders gestaltet. Bei Tageslicht dürfen die Gläubigen dann nichts essen und trinken. Es wird in dem Fastenmonat der Entstehung des Koran gedacht.
Frage: Wie hat sich die heutige Praxis des Fastens über die Jahrhunderte herausgebildet?
Bauer: Die klassische Fastenzeit vor Ostern oder Weihnachten gab es am Anfang des Christentums noch nicht. Im zweiten Jahrhundert sind nur die beiden Tage unmittelbar vor dem Osterfest, Karfreitag und Karsamstag, als Fasttage bezeugt. Im dritten Jahrhundert kam dann die Ausweitung auf die Woche vor Ostern hinzu und im vierten Jahrhundert die Ausweitung auf 40 Tage. Durch die längere Dauer der Fastenzeit waren die Anforderungen für die einzelnen Tage dann weniger streng. Aber es liefen parallel unterschiedliche Entwicklungen. Im vierten und fünften Jahrhundert haben sich mit dem gerade entwickelten Mönchtum auch extreme Formen des Fastens herausgebildet.
Askese und Entweltlichung: So entstand das frühchristliche Mönchtum
Die heutigen Orden mit ihren teils prächtigen Konventen haben mit dem Ursprung des christlichen Möchtums nicht mehr viel gemein. Damals gingen einige Christen in die Wüste, um dort als Eremiten zu leben. Erst später schlossen sie sich zu Gemeinschaften zusammen. Einer dieser sogenannten Wüstenväter gilt noch heute als "Vater der Mönche".
Frage: Wie sahen die aus?
Bauer: In Syrien gab es zum Beispiel sogenannte Säulensteher, die mehr oder weniger ihr ganzes Leben auf einer Säule verbracht und das auch mit radikalen Fastenpraktiken verbunden haben. Die Mönche sahen eine solche Lebensform als Ersatzhandlung für das blutige Martyrium in den Zeiten der Verfolgungen. Sie brachten damit ihre absolute Opferbereitschaft zum Ausdruck. Darin spiegelt sich dann doch der alte Gedanke einer Bußexistenz, der Trauer über die eigene Unvollkommenheit und Erlösungsbedürftigkeit – auch stellvertretend für das Kollektiv, die gesamte Gemeinschaft der Kirche.
Frage: Gab es da keine Gegenbewegungen?
Bauer: Doch, die gab es sehr wohl. Die Benedikts-Regel aus dem sechsten Jahrhundert stellt sich massiv gegen übertriebene Formen der Askese und des Fastens und fordert moderatere Formen ein. Die frühen Mönchstexte berücksichtigen dann zunehmend auch die materielle Ausgangslage der Menschen: Was ist dem Einzelnen zuzumuten? Für einen Hirten oder Kleinbauern bedeutete Verzicht etwas anderes für einen hohen Staatsbeamten.
Frage: Es gab ja im Lauf der Geschichte auch ganz kreative Versuche, das Fasten zu umgehen, zum Beispiel Herrgottsbescheißerle als Maultaschen, in denen das Fleisch versteckt war…
Bauer: (lacht). Ja, es gab sogar auch Überlegungen, ob ein Hase Fleisch oder Fisch ist… Bei einer solchen Sichtweise wird das Fasten allerdings einfach auf ein Regelwerk reduziert, das es zu erfüllen gilt. Einerseits helfen Regeln natürlich gegen Übertreibungen, andererseits können sie aber auch zu einem gewissen Legalismus oder Ritualismus führen, über den der eigentliche Sinn des Fastens verloren geht. Viel wichtiger als nur ein Verzicht auf Speisen oder Getränke ist die innere Haltung, die Bereitschaft einer Gesinnungsänderung den Mitmenschen gegenüber, um mal ein großes Wort zu benutzen. Fasten hat im Christentum am Ende auch immer eine soziale Dimension. Ich zeige mich solidarisch mit den Armen, Schwachen und Kranken. So steht es auch im Matthäus-Evangelium: "Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer". (Mt 9,13)
Frage: Wie ging es dann weiter?
Bauer: Im Mittelalter war im Christentum immer noch der völlige Speiseverzicht an bestimmten Tagen oder auch über einen bestimmten Zeitraum die Regel. Es ging um Fleisch, Alkohol, Eier und Milchprodukte. Mit der Reformation ändert sich die Sicht auf das Fasten. Die Protestanten sahen die damaligen Fastenpraktiken als eine reine Äußerlichkeit. Aber auch im Katholizismus wurden spätestens mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) die bis dahin geltenden Regeln deutlich gelockert. Fast- und Abstinenzgebote zum Gedenken an das Leiden Jesu gelten noch an den Freitagen, an Aschermittwoch und Karfreitag. Inzwischen verbreitet sich auch immer mehr neue Formen des Fastens jenseits von Fleisch- oder Alkoholverzicht wie Beispiel Auto-, Handy- oder Internetfasten.
Frage: Wie sehen Sie die Zukunft des Fastens?
Bauer: Auf einer oberflächlichen Ebene ergeben sich durchaus Gemeinsamkeiten zwischen christlichem Fasten und der modernen Kultur. Das Fasten von Fleisch oder der Verzicht etwa auf weite Reisen kann den ökologischen Fußabdruck deutlich verbessern, es werden Transportwege eingespart, Ressourcen geschont. Das kommt gut an in einer Gesellschaft, die mit der Angst vor dem Klimawandel lebt. Die Umweltbewegung hat aber andere Motive als das religiöse Fasten. Und es gilt auch hier einen gewissen Rigorismus zu vermeiden, der dem christlichen Gedanken widerspricht. Nicht jeder kann sich Biofleisch leisten. Wenn zu viel moralischer Druck ausgeübt wird, hat das mit dem sozialen Gedanken des christlichen Fastens nicht mehr viel zu tun.