Karin Klemm über das Aufarbeiten von Schuld am Lebensende

Hospizseelsorgerin: "Vergebung ist ein Beziehungsgeschehen"

Veröffentlicht am 31.03.2023 um 00:01 Uhr – Von Madeleine Spendier – Lesedauer: 

Bonn ‐ Karin Klemm ist Hospizseelsorgerin in Luzern. Sie begleitet Menschen beim Sterben. In den Gesprächen mit Sterbenden fällt ihr auf, wieviel seelischen Ballast manche mit sich herumtragen. Was dabei helfen kann, diesen loszuwerden, erklärt die Seelsorgerin im Interview mit katholisch.de.

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Karin Klemm ist Theologin und arbeitet im Hospiz Zentralschweiz in Luzern. In der Schweiz ist sie erste festangestellte Hospizseelsorgerin, die Menschen auf ihrem letzten Lebensweg begleitet. In den vertraulichen Gesprächen mit den Hospizgästen geht es Klemm vor allem um das Aufarbeiten von Schuld. Was dabei wichtig ist und wie es gelingen kann, Schweres loszulassen, erklärt die Seelsorgerin im Interview mit katholisch.de.

Frage: Frau Klemm, Sie begleiten Menschen auf ihrem letzten Lebensweg. Was ist Ihnen dabei wichtig?

Klemm: Menschen, die ich als Seelsorgerin besuche, möchten oft nur den Moment teilen, das, was sie jetzt gerade bewegt. Andere sind am Bilanzieren und brauchen jemanden, die nachfragt und aktiv zuhört. Ich möchte, dass die Patienten erfahren, dass ich mich wirklich interessiere und sie verstehe. Manche möchten von dem Guten und Schönen in ihrem Leben erzählen, andere bringen ins Wort, was sie belastet. Regelmäßig fällt mir auf, wieviel seelischen Ballast viele Menschen am Ende ihres Lebens noch mit sich herumtragen. Leichter fällt es manchmal eher, das zu erzählen, was andere zu verantworten haben. Schwieriger ist es, Worte für das selbst Verschuldete und für die nicht übernommene eigene Verantwortung zu finden. In so einem Fall ist es nicht hilfreich, wenn dann zu schnell entkräftende oder verharmlosende Kommentare von der Seelsorgerin kommen. Etwa "Das ist doch alles schon so lange her" oder "Das ist doch nicht so schlimm" oder gar "Gott wird schon nicht so streng sein". Schnelle Zusprache von Vergebung bleibt an der Oberfläche, schafft in der Tiefe keinen Frieden. Das habe ich in meinen seelsorgerlichen Begleitungen häufig erlebt.

Frage: Was soll so ein Seelsorgegespräch denn im besten Fall bewirken?

Klemm: Je älter ich werde, umso mehr traue ich mich in den Seelsorgegesprächen ehrlich nachzufragen. Ich denke dabei an die Geschichte in der Bibel von Kain und Abel. Kain hat seinen Bruder Abel ermordet. Gott hat ihn gefragt: "Was hast du getan". Daher frage ich meine Patienten auch gerne: "Was hast du getan?". Das ist keine moralische oder bewertende Frage. Sondern mehr eine erschütterte Einladung dafür, dass jemand ähnlich wie Kain in der biblischen Erzählung anfangen kann, Verantwortung für sein Tun zu übernehmen. Was Kain ja auch tut. Er lernt, mit seinem sogenannten "Kains-mal", das ihn verrät aber auch schützt, zu leben.

Bild: ©Sylvia Stam

Karin Klemm arbeitet seit über 30 Jahren als Seelsorgerin, davon 25 Jahre im Gesundheitswesen, im Akutspital, in der Psychiatrie und seit über drei Jahren im Hospiz. Im Meditationsraum des Hospizes Zentralschweiz hält sie eine Holzscheibe hoch.

Frage: Können Sie ein konkretes Beispiel aus Ihrem Arbeitsalltag dafür nennen? 

Klemm: Ja, ich denke an eine Mutter, die auf dem Sterbebett ihren Kindern gegenüber das Geheimnis gelüftet hat, dass sie noch ein weiteres Kind hatte, also ein älteres Geschwisterkind, das sie als junge Frau zur Adoption freigegeben hatte. Ich habe erlebt, dass es sie erleichtert hat, ihren anderen Kindern davon zu erzählen. Das Nachfragen, also dieses "Was hast du getan?", hat allen in der Familie geholfen. Es ging nicht um das Heischen von Mitleid und Verständnis für die damals junge Mutter, die von ihren Eltern gezwungen wurde, das Kind wegzugeben. Es ging zuerst darum, dass sie den Kindern nun erzählen konnte, warum es so lange ein Geheimnis für sie blieb, warum ihre Angst so groß war, ihnen davon zu erzählen. Die Frage "Was hast Du getan?" hat der sterbenden Frau geholfen, Verantwortung für ihr Verschweigen den anderen Kindern gegnüber zu übernehmen. Das tat sie, indem sie ihren Kindern erzählte, wie sie mit dem Verlust des Kindes leben lernte. Sie hat auch davon erzählt, wie ihr damals eingeredet wurde, dass der Mantel des Schweigens hilft. Und sie erzählte, dass sie das zwar nicht glaubte, aber so tat als ob. Und sich daran gewöhnte, das erste Kind zu verschweigen, auch den Nachgeborenen gegenüber. Es gab keine Bitte um Vergebung an die Kinder. Aber als sie anfing, Verantwortung zu übernehmen, gab es eine veränderte, eine verwandelte Beziehungsqualität zwischen der schwerkranken Frau und ihren erwachsenen Kindern. Zusammen mit dieser Frau fing ich an zu begreifen, dass Vergebung ein Beziehungsgeschehen ist, eines das Zeit braucht für ganz viele Schritte. Zeit für die Verwandlung. Und ich habe so für mich gelernt, was uns die Geschichte von Kain und Abel auch erzählt: "Wir bleiben Gottes Kinder, auch mit beschmutzter Weste".

Frage: Warum soll man am Ende nochmal alles aufwärmen? Wäre es nicht besser, über manches zu schweigen?  

Klemm: Das muss jeder Mensch für sich selbst entscheiden. Die Angst davor, etwas "aufzuwärmen", kann berechtigt sein. Aber alte, längst vergangene Geschichten aus dem eigenen Leben ansprechen, kann unabsehbare Folgen im aktuellen Beziehungsgefüge haben. So wie im vorhergehenden Bild dieser sterbende Frau, die  zu mir sagte: "Alles, was man verschweigt, hat auch Folgen für andere." Ihre Scham darüber, dass sie ihren Kindern das älteste Geschwisterkind verschwiegen hatte. Und die Scham darüber, nie nach diesem ersten Kind nachgeforscht zu haben, ob es eine gute Familie gefunden hatte, das hatte bei ihr zu viel Introvertiertheit geführt. Sie zeigte ihren nachgeborenen Kindern wenig Emotionen, denn sie hatte schmerzhaft lernen müssen, von Anfang an als Mutter ihre Emotionen zurückzuhalten. Sie hatte es sogar im Lauf ihres Lebens verlernt, Emotionen zu leben. In ihren letzten Lebenswochen erlebten die Kinder eine Palette von Emotionalität bei ihrer Mutter und auch gleichzeitig eine wachsende Dankbarkeit ihnen gegenüber. Sie ließ endlich die Trauer um das erste, verlorene Kind zu. Und ihr Glück über die Nachgeborenen.

„Längst nicht alle Menschen, die Schuld auf sich geladen haben, sehnen sich nach Vergebung. Aber die allermeisten sehnen sich nach Beziehung.“

—  Zitat: Karin Klemm, Hospizseelsorgerin in der Schweiz

Frage: Nehmen wir eine andere Situation. Wenn jemand in seinem Leben als Kind Gewalt erfahren hat und das nicht mehr mit seinen verstorbenen Eltern, die ihm diese zugefügt haben, besprechen kann. Was empfehlen Sie dann?  

Klemm: Wenn jemand im Sterben liegt und sehr darunter leidet, dass er als Kind geschlagen wurde, dann kann es die Aufgabe eines nahen Angehörigen, vielleicht der Tochter, sein, diese innere Not zu ehren. Damit meine ich, das anzuerkennen, was die Person erleiden musste. "Papa, dass du geschlagen wurdest, das war schlimm für dich." Wenn die Tochter das sagt, dann ehrt sie damit den Schmerz, den der Vater erlitten hat, und tut nicht so, als ob nichts gewesen wäre. Und dann gilt es, den Blick auf das Leben des Vaters zu richten. "Schau mal, Papa, du hast uns, deine eigenen Kinder, niemals geschlagen. Du hast etwas Gutes aus deinen Erfahrungen gemacht. Du wurdest nicht zum Täter." Vielleicht ist dies ein Trost für den Vater und für die Angehörigen.  

Frage: Ist es Ihr Ziel als Seelsorgerin, dass sich am Ende alle versöhnen, damit der Gast im Hospiz friedlich sterben kann? 

Klemm: Nein, das ist nicht mein Ziel. Ich freue mich, wenn Menschen immer mehr inneren Frieden auf der letzten Wegstrecke erleben. Aber das kann niemand, schon gar keine Seelsorgerin, machen. Ich kann dafür beten, so wie Dorothee Sölle es definiert: "Beten heißt für möglich halten, dass es anders kommt". Vor allem aber: Viel mehr Menschen als gemeinhin angenommen wird, können friedlich sterben ohne aufzuarbeiten, ohne klärende Gespräche. Das Einwilligen in ein Ende ohne weiße, sondern mit beschmutzter Weste, gelingt vielen Menschen. Diejenigen, die unter ihrer Schuld leiden, aber nichts davon mehr ansprechen wollen oder können, können auch im Frieden sterben. Das habe ich erfahren. Aber sie haben vielleicht die Möglichkeit einer verwandelten Beziehung verpasst. Sie haben vielleicht verpasst, wahrhaftigere Nähe zu einem Menschen herzustellen. 

Frage: Wenn Sie nun so viel über Ihre Patienten wissen, vermitteln Sie auch in Konflikten oder ermutigen Sie andere Familienmitglieder zur Aussprache?  

Klemm: Nur dann, wenn ich darum gebeten werde. Ansonsten gilt das Vertrauensprinzip, das mir verbietet, mir Anvertrautes an andere Familienmitglieder weiterzugeben. Ich stelle nur Fragen und hoffe, dass es die Menschen, die ich begleite, in ihren Beziehungen mit anderen weiterbringt. Längst nicht alle Menschen, die Schuld auf sich geladen haben, sehnen sich nach Vergebung. Aber die allermeisten sehnen sich nach Beziehung. Denn genau diese Beziehungen zu anderen Menschen machen das Leben lebenswert bis zum Schluss. Deshalb lohnt sich jede Mühe. Und manche Menschen brauchen auf diesem Weg seelsorgerliche Begleitung. Dafür bin ich dann da.   

Von Madeleine Spendier