Benediktiner über Missbrauch: "Wir wollten das Ganze nicht wahrhaben"
Der Abt der Benediktinerabtei Kornelimünster, Pater Friedhelm Tissen, ist Mitte Februar in diesem Jahr zurückgetreten. Im Verlauf einer Visitation hat er um die Entpflichtung von seinem Amt gebeten. Abtpräses Guillermo Arboleda Tamayo hat dem am 11. Februar entsprochen und den Rücktritt bestätigt. Bruder Antonius Kuckhoff ist in der Abtei für die Pressearbeit zuständig. Er erklärt im Gespräch mit katholisch.de die Hintergründe des Rücktritts und spricht über die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der Abtei.
Frage: Bruder Antonius, was genau war der Auslöser für den Rücktritt des früheren Abtes Friedhelm Tissen?
Bruder Antonius: Anfang Februar gab es in unserer Abtei eine Visitation durch Abtpräses Guillermo Arboleda Tamayo. Und im Rahmen dieser Visitation hat Pater Friedhelm Tissen seinen Rücktritt angeboten. Für uns als Gemeinschaft war das stimmig. Der gravierendste Grund für den Rücktritt des früheren Abtes war die Verschleppung der Aufarbeitung des Missbrauchs in unserer Gemeinschaft.
Frage: Welche Beschuldigungen gab es oder gibt es?
Bruder Antonius: Ich sehe zwei Bereiche, in denen sexualisierte Gewalt ausgeübt wurde. Ehemalige Schüler unserer früheren Ordensschule in Kornelimünster sind von sexualisierter Gewalt betroffen. Derzeit wissen wir von Taten, die in den 1960er und 1970er begangen wurden. Die Realschule St. Benedikt und das dazugehörende Internat waren von 1948 bis 1988 in Trägerschaft unserer Abtei. Dort waren auch Patres unserer Gemeinschaft tätig. Sie haben dort unterrichtet und das Internat geleitet. Die meisten Betroffenen waren Internatsschüler unserer Schule. Sie wurden geschlagen, und zwar teilweise massiv, und es gab Fälle sexueller Gewalt. Ihnen wurden dadurch schlimme seelische Verletzungen und Traumata zugefügt. Darüber hinaus wissen wir auch von mindestens einer Person, die im seelsorglichen Kontext von sexualisierter Gewalt betroffen war. Hier wurde ein seelsorgliches Verhältnis ausgenutzt, um anderen Menschen Schaden anzutun. Diese Taten wurden bislang mangelhaft aufgearbeitet. Auch der Kontakt mit Betroffenen war über lange Zeit hinweg nicht angemessen und Abt Friedhelm hat Anträge zur Anerkennung des Leids über lange Zeit hinweg nicht bearbeitet.
Frage: Seit wann wissen Sie, dass es auch sexualisierte Gewalt an dieser ordenseigenen Schule gab?
Bruder Antonius: Seit 2010 ist dieses Thema bei uns auf dem Tisch. Damals hat die öffentliche Wahrnehmung von sexualisierter Gewalt und deren systemischer Ursachen eine neue Intensität bekommen. Ehemalige Schüler haben sich gemeldet und sind auch an die Presse gegangen. Seit damals ist uns bewusst, dass auch wir Teil des Systems Kirche sind und dass wir die sexualisierte Gewalt im eigenen Haus nicht wahrgenommen haben.
Frage: Warum wurde die Aufarbeitung trotzdem so lange verschleppt?
Bruder Antonius: Heute erkläre ich es mir so: Wir waren damals zurückgeschreckt, vielleicht auch, weil wir das Ganze nicht wahrhaben wollten. Letztlich haben drei betroffene Personen einen Antrag auf Anerkennung des Leids gestellt. Allerdings wurde nur einer dieser drei Fälle bearbeitet. Die anderen zwei Anträge blieben von Abt Friedhelm unbearbeitet.
Frage: Was denken Sie, war der Grund für die Verschleppung?
Bruder Antonius: Alle mutmaßlichen Täter sind verstorben. Wir können nicht mehr nachfragen oder genau nachprüfen, was genau geschehen ist. Heute wissen wir, wir haben zu spät reagiert. Wir sehen uns in der Schuld der Betroffenen.
Frage: Glauben Sie den Betroffenen?
Bruder Antonius: Ja. Das, was sie uns erzählen, ist plausibel. Durch das, was sie berichtet haben, haben wir nun ein genaueres Bild davon, was geschehen ist.
Frage: Denken Sie, dass sich noch mehr Betroffene melden könnten?
Bruder Antonius: Aktuell sind 5 Personen, die unmittelbar betroffen sind, mit uns im Kontakt. Sicherlich gibt es mehr Betroffene. Aber weil es in der Vergangenheit leider nicht ordentlich dokumentiert wurde, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt keine konkrete Zahl nennen.
Frage: Belastet Sie das Leid der Betroffenen auch persönlich?
Bruder Antonius: Ja, das Leiden jedes einzelnen Betroffenen belastet mich sehr. Es tut mir leid, dass das in meiner Gemeinschaft passiert ist. Und es tut mir auch leid, dass es zu lange ein "Nicht Können" des Aufarbeitens gab.
Frage: Was sind die nächsten Schritte zu einer Aufarbeitung?
Bruder Antonius: Pater Oliver Kaftan, der momentan unsere Gemeinschaft leitet, ist für die Aufarbeitung zuständig. Er steht in intensivem Kontakt mit Betroffenen. Wir wollen schnellstmöglich Betroffene am Aufarbeitungsprozess beteiligen und ihre Anliegen berücksichtigen. Wir werden eine unabhängige Studie oder ein Gutachten in Auftrag geben, damit wir genau nachvollziehen können, was damals geschehen ist.
Frage: Pater Friedhelm Tissen soll weiterhin in der Gemeinschaft bleiben.
Bruder Antonius: Ja, Pater Friedhelm bleibt weiterhin Teil unserer Gemeinschaft und übernimmt als Bruder verschiedene Aufgaben innerhalb unserer Gemeinschaft.
Frage: An anderer Stelle Ihrer Webseite steht, dass Sie den Gästen im Kloster "viele Möglichkeiten zum Kontakt mit uns Mönchen geben wollen" und "wir wollen eine Oase für Menschen sein". An anderer Stelle steht: "Wir sind stolz auf 1000 Jahre benediktinischer Tradition in Kornelimünster." Müssten Sie nicht manche Stellen auf der Webseite überarbeiten - auch im Blick auf die dunklen Seiten der Vergangenheit der Abtei?
Bruder Antonius: Auch das ist ein Thema, das wir im Laufe des nächsten Jahres angehen wollen: Wir wollen an der Formulierung unseres Selbstverständnisses arbeiten. Dabei werden auch die dunklen Seiten unserer Gemeinschaft eine Rolle spielen. Wir dachten, dass manches bei Orden besser geht als in anderen Teilen der Kirche, auch was die Aufarbeitung betrifft. Doch jetzt müssen wir eingestehen: Es geht auch in Orden nicht einfach besser. Auch wir sind Teil des klerikalen Systems. Zuerst hatten wir keine genaue Vorstellung davon, wie Aufarbeitung im Orden gehen kann. Seit 2021 gibt es den von der Deutschen Ordensobernkonferenz berufenen "Ausschuss für unabhängige Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bereich von Ordensgemeinschaften (AUAO)", der uns unterstützt.
Frage: Welches Schutzkonzept haben Sie zurzeit in der Abtei?
Bruder Antonius: In unserer Gemeinschaft gilt die Rahmenordnung zur Prävention gegen sexualisierte Gewalt der Deutschen Ordensobernkonferenz (DOK) aus dem Jahr 2020. Seit 2020 haben wir – wie die meisten Einrichtungen der Kirche - ein institutionelles Schutzkonzept. Es sind verbindliche Verhaltensregeln, die für alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Haus gelten. Wir müssen Menschen, die zu uns kommen, vor sexuellen Übergriffen, vor einer sexualisierten Atmosphäre, geschlechtsspezifischen Diskriminierungen und vor Machtmissbrauch in geistlichen Zusammenhängen schützen.
Frage: Wie schätzen Sie es persönlich ein: War es gut, dass der frühere Abt zurückgetreten ist, oder war es eher ein "Sich drücken vor der eigenen Verantwortung"?
Bruder Antonius: Es gibt zwei Möglichkeiten, Verantwortung zu übernehmen. Die eine ist, dass jemand Fehler, die er gemacht hat, erkennt und es dann besser macht. Die andere ist, Fehler zu erkennen und zu merken: "Ich selbst kriege es nicht hin, ich trete zurück und übernehme so die Verantwortung. Jetzt mache ich den Weg frei, damit es ein anderer besser machen kann." Abt Friedhelms Rücktritt ist der Versuch, offen zu legen, dass wir hinter unseren Ansprüchen zurückgeblieben sind.
Frage: Wollen Sie als Abtei durch den Rücktritt auch ein Zeichen setzen, dass auch andere kirchliche Verantwortungsträger zurücktreten sollten, die die Aufarbeitung von Missbrauch verschleppen?
Bruder Antonius: Das war nicht das Zeichen, das er damit setzen wollte. Aber es sollte ein deutliches Zeichen setzen für die Betroffenen. Die Botschaft ist: "Wir nehmen euch ernst. Wir wollen, dass die Aufarbeitung vorankommt".
Frage: Sie sind nur noch fünf Brüder in der Abtei. Droht auch eine Auflösung der Abtei?
Bruder Antonius: Es stehen sicherlich Veränderungen in der Gemeinschaft an. Vor einigen Jahren waren wir noch acht Brüder, jetzt sind wir eine kleine Gemeinschaft von fünf Mönchen Daher werden wir keinen Abt mehr wählen. Zunächst wird ein Prior-Administrator für ein Jahr eingesetzt. Dieses Jahr wollen wir nutzen, um die Aufarbeitung voranzubringen und zu schauen, in welcher Weise wir als Gemeinschaft weitergehen wollen. Dazu gehören auch Fragen nach unserer rechtlichen Form oder wie und mit welcher Kooperation wir unser recht großes Gebäude sinnvoll und unserer Kraft gemäß nutzen wollen.
Frage: Was wünschen Sie sich?
Bruder Antonius: Mit Blick auf die Aufarbeitung wünsche mir, dass wir als Gemeinschaft benennen können, was von Mönchen unseres Klosters Menschen angetan wurde. Es geht darum herauszufinden, woran es lag und welche Strukturen Gewalt und Missbrauch gefördert haben. Daraus wollen wir für heute lernen, damit dies nicht wieder geschehen kann. Wir wollen deutlicher erkennen, welche Strukturen eine Aufarbeitung erschweren oder verhindern. Heute sagen wir ganz deutlich: Wir als Gemeinschaft wollen nichts vertuschen.
Zur Person
Bruder Antonius Kuckhoff arbeitet im Gästebereich der in der Abtei Kornelimünster, ist zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit und ist Novizenmeister und Präventionsbeauftragter. Von 2009 bis 2020 arbeitete er als Hochschullehrer für das Alte Testament an der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Steyler Missionare in Sankt Augustin. Seit 2021 leitet er den Fachbereich "Medien" im Katechetischen Institut des Bistums Aachen.