Einrichtungsleiterin: Seelsorge ist eine Bereicherung der Therapie
Seit 25 Jahren arbeitet Birgitta Daniels-Nieswand mit Menschen, die psychische Erkrankungen haben. Davon gibt es immer mehr: Laut der Krankenkasse KKH stieg die Zahl der Krankentage im Jahr 2022 um 16 Prozent gegenüber dem Vorjahr, die Betroffenen geben vor allem Depressionen, chronische Erschöpfung und Angstzustände an. Im Interview spricht die Psychiatrieseelsorgerin in der Kölner LVR-Klinik und Leiterin der Kölner Beratungsstelle "Seelsorge und Begegnung für psychiatrieerfahrene Menschen im Paulushaus" (S&B) über den Wert der Seelsorge, ein gesellschaftliches Tabu und Achtsamkeit im Alltag.
Frage: Frau Daniels-Nieswand, Seelsorge für Menschen mit psychischen Erkrankungen, was ist da das Besondere?
Daniels-Nieswand: Seit 25 Jahren bin ich in der Psychiatrie-Seelsorge tätig. Ich begegne dort Menschen, die im Erleben von Leid und in der Zerbrechlichkeit des Lebens auf der Suche nach Sinn und Halt sind. Immer wieder berührt mich die Offenheit, die mir im Gespräch in einem geschützten Raum geschenkt wird. Menschen mit Psychiatrieerfahrung haben oft eine große spirituelle Sehnsucht nach einem Halt in ihrer inneren und äußeren Zerrissenheit. In Einzelgesprächen und auch in Gruppentreffen, etwa für Trauernde erlebe ich ein großes Vertrauen und eine Suchbewegung nach Sinn.
Frage: Sind Sie als Seelsorgerin ein Ersatz für eine Therapie?
Daniels-Nieswand: Viele Besucherinnen und Besucher von S&B haben uns über ihre Therapeuten gefunden. Wir selbst sind keine Therapeuten, haben eine langfristige fachspezifische Ausbildung und weitere Zusatzausbildungen. In der Klinik verstehen wir uns als ein weiteres Angebot für die Patientinnen und Patienten im Kontext des Klinikalltags. Unser Auftrag ist es, Menschen in ihrer existentiellen Leiderfahrung zu begleiten und oft auch ihre Situation mit auszuhalten.
Frage: Haben Menschen mit psychischen Erkrankungen besondere Bedürfnisse?
Daniels-Nieswand: Vor allem ein großes Schutzbedürfnis. Wir haben diese Einrichtung, eine seelsorgliche Begegnungsstätte, vor 25 Jahren gegründet. Hier wie in der Klinik, wo ich zusätzlich als Seelsorgerin arbeite, gibt es eine Art Schutzraum, wo sich diese Menschen in den Mittelpunkt stellen dürfen. Es ist ja auch die christliche Botschaft, die Würde der Menschen, die am Rand stehen sichtbar zu machen. Das Bedürfnis wahrgenommen und angenommen zu sein in der Fragilität der Lebenserfahrung und die Sehnsucht nach Verbundenheit.
Frage: Was ist denn in solchen Runden anders?
Daniels-Nieswand: In der Gemeinde gibt man sich nicht so offen wie hier und erzählt so viel: Ich habe gestern meinen Suizidversuch gehabt oder ich habe wieder ganz schlimme Depressionen. Denn in der Gemeinde sehen Sie die anderen Leute am nächsten Tag wieder. Psychische Erkrankungen sind immer noch ein Tabu in unserer Gesellschaft. Hier bei uns in S&B kommen Menschen von überall zusammen und nach den Treffen geht man auch wieder auseinander. Da gibt es eine Verbundenheit im Laufe der Jahre, auch Freundschaften, die geschlossen worden sind. Aber es herrscht auch eine gewisse Distanz, weil man keinen gemeinsamen Alltag hat.
Frage: Psychische Krankheiten sind sehr unterschiedlich. Wie kommen die Leute miteinander aus?
Daniels-Nieswand: Erstaunlicherweise kommen sie gut miteinander zurecht. Irgendwie sind sie hier sehr solidarisch und tolerant miteinander. Das finde ich faszinierend. Es hat aber auch mit unserem Anspruch zu tun: Wir bewerten die Leute nicht, wir heilen sie nicht, wir stellen keine Diagnosen, sondern begleiten. Wir fragen auch nicht danach. Aber es gibt natürlich Unterschiede: Menschen mit einer bipolaren Persönlichkeitsstörung muss ich beruhigen, betonen, dass hier nichts passieren kann. Denn sie sind in Flashbacks gefangen, viele haben Traumatisierungen erlebt. Eine hohe Sensibilität braucht es in der Wahrnehmung und in der Ansprache. Menschen mit Panikattacken und Angststörungen brauchen anderen Zuspruch und Unterstützung als Menschen in tiefer Depression.
Frage: Welchen Unterschied macht für diese Menschen eine geistliche Begleitung oder ein religiöser Hintergrund?
Daniels-Nieswand: Es gibt Menschen, die sagen: Wenn ich meinen Glauben nicht hätte, dann hätte ich mich schon längst umgebracht. Der Glaube ist eine Kraft – unabhängig vom Namen, den man ihr gibt. Wozu ich Gott sage, das nennen andere Universum, bei uns ist jeder willkommen. Zu uns kommen Menschen auf Sinnsuche, die darauf vertrauen, dass es etwas gibt in diesem Leben, was uns hält und trägt, das tröstet und als beziehungsstiftend erlebt wird. Die wollen wir spürbar und erfahrbar machen. Das gibt vielen Menschen einen Halt in so mancher Haltlosigkeit und Verzweiflung.
Frage: Hilft also Glaube gegen Depressionen?
Daniels-Nieswand: Es gibt Untersuchungen, dass Religiosität oder Spiritualität eine Stärkung für Menschen in dieser Situation sein kann – das kommt aber auch auf die Art der Religiosität an. Ich habe hier auch Leute sitzen, die mal in Sekten waren, da ist Religiosität zerstörerisch. Wir leben den Glauben hier gut katholisch, also allumfassend und die Freiheit stützend. "Ihr seid zur Freiheit berufen", heißt es in der Bibel (Gal 5,13). Darum geht es, dass Menschen frei werden, auch von Erwartungen oder von Dingen, die sie so mitschleppen im Laufe ihres Lebens. Daraus kann eine Kraft entstehen.
Frage: Haben Sie auch mal erlebt, dass jemand den katholischen Glauben einengend erfahren hat?
Daniels-Nieswand: Natürlich, je nachdem, welche Botschaft man als Kind oder im Laufe des Lebens mitbekommen hat: Dass der liebe Gott alles sieht oder Glaube sich nur auf enge Moralvorstellungen bezieht. Wenn ich das mit mir herumtrage und mich selber immer daran messe und große Erwartungen an mich habe, dann ist das ungesund. Das versuchen wir in Gesprächen vorsichtig miteinander aufzuarbeiten und den Blick auf einen barmherzigen Gott und in einen Glauben der Freiheit zu kommen.
„Die Welt ist schlicht gesagt bedrohlicher geworden.“
Frage: Wie groß ist da die Gefahr, Krankheiten schlicht wegbeten zu wollen?
Daniels-Nieswand: Das ist auch eine ungesunde Art von Glaube. Beten bedeutet ja keinen Automatismus. Wer betet, dem geht es nicht sofort besser. Es ist eine Form des Dialogs, des Anvertrauens, ein Gegenüber zu haben. Das hilft manchmal, etwas aussprechen zu können und zu ahnen, dass man nicht alleine im Leben unterwegs ist. Deshalb ermutige ich manchmal Leute, ihren eigenen Psalm zu schreiben, einfach um das in Worte zu fassen, gemeinsam mit Zweifeln und Hadern.
Frage: Laut Statistik melden sich immer mehr Menschen in Deutschland wegen psychischen Erkrankungen krank, es sind immer noch mehr Frauen, doch vor allem über die Corona-Pandemie sind die Zahlen auch bei den Männern gestiegen. Merken Sie das in der Einrichtung?
Daniels-Nieswand: Ja. Wir bekommen vermehrt Anfragen für Einzelgespräche, das hat auch viel mit nicht verarbeiteter Trauer zu tun. Auch ein Gefühl von Vereinsamung nimmt zu. Dazu hat Corona beigetragen, aber auch die vielen anderen Krisen unserer Zeit. Die Welt ist schlicht gesagt bedrohlicher geworden. Vor allem erlebe ich gerade bei jungen Menschen auch die Sinnfrage nach einem Leben in einer Welt, die so gebeutelt ist von Katastrophen. Dagegen wollen wir eine Willkommenskultur und eine Möglichkeit zur Gemeinschaft setzen.
Frage: Wie kann man im Gemeindealltag sensibel sein dafür, wenn Menschen unter dieser Situation leiden?
Daniels-Nieswand: Einerseits helfen offene Kirchen, dass Menschen dort verweilen und zu sich kommen können, selbst wenn man nicht gläubig ist. Andererseits hilft es, beim Gemeindeangebot von Gottesdiensten oder in vielen Begegnungsräumen zu schauen, wie man die Menschen unterstützen kann und auf andere Möglichkeiten hinzuweisen, wo sie mit ihrer Leidenserfahrung einen besonderen Schutzraum erleben können. Da besteht bei den vielen Pfarreizusammenführungen natürlich die Gefahr, dass es unpersönlicher wird und der Kontakt zu den Menschen nachlässt.
Frage: Sollten Seelsorgende auf Menschen in bedenklichen Situationen gezielt zugehen?
Daniels-Nieswand: Ich habe vor einigen Jahren mal über das Thema psychische Probleme gepredigt und danach sind einige Menschen auf mich zugekommen und haben mir von Menschen in ihrem Umfeld erzählt, die psychisch erkrankt sind. Menschen darauf aufmerksam machen, dass es neben Gemeindeangeboten weitere Möglichkeit der Unterstützung gibt. In einem geschützten Raum ist dann mehr Zeit als im Gemeindealltag, wo auch die Seelsorgenden mit ganz anderen Sachen beschäftigt sind.