Himmelklar – Der katholische Podcast

Anne Gidion – Die Prälatin bei der Bundesregierung

Veröffentlicht am 22.03.2023 um 00:30 Uhr – Von Renardo Schlegelmilch – Lesedauer: 

Bonn ‐ Seit einem knappen halben Jahr ist Anne Gidion die Bevollmächtigte der evangelischen Kirche bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union. Im Interview spricht sie über ihre Aufgabe und das Verhältnis der Ampel zu den Kirchen.

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Ja, auch die evangelische Kirche kennt Prälaten. Unter anderem Prälatin Anne Gidion, sie ist als erste Frau Kontaktperson der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zur Bundesregierung und zur EU. Wie die Regierung zu den Kirchen steht, weshalb der Ukraine-Krieg auch für sie eine Herausforderung ist und was sie schon mit dem Bundeskanzler besprochen hat, erzählt sie im Podcast.

Frage: Prälatin Anne Gidion. Das ist ein sehr ungewöhnlicher Titel, weil es Prälaten in der evangelischen Kirche kaum gibt. Hinzu kommt, dass Sie auch als erste Frau auf Ihrer Position in Berlin sitzen.

Gidion: Ich bin auf dieser Position der Bevollmächtigten tatsächlich die erste Frau, aber den Prälaten- und Prälatinnen-Titel gibt es vereinzelt auch anderswo, in verschiedenen evangelischen Landeskirchen, zum Beispiel in Württemberg und in Kurhessen, etwa zur Bezeichnung einer Leiterin der Verwaltung oder als Regionalbischöfin, das gibt es schon. In der Funktion als Prälatin im politischen Berlin und bei der EU bin ich tatsächlich die erste Frau. Ich erkläre diesen Titel, wenn mich Leute fragen, über die lateinische Herkunft: "fero – tuli – latum" (lateinisch ferre = tragen) und dann "Prä-"Latum. Ich darf also etwas vor-tragen, etwas vor-bringen. Ich habe also das Recht oder die Befugnis und die Bevollmächtigung, kirchliche Angelegenheiten im politischen Geschäft vorzutragen und politische Angelegenheiten im kirchlichen Geschäft vorzutragen. Dieses wechselnde Vortragsrecht und die Vortragspflicht begründen den Titel Prälatin.

Frage: Sie sind Kontaktfrau der evangelischen Kirche zur Bundesregierung und auch zur EU in Brüssel. Wie ist denn so das Verhältnis? Wie steht die Politik zu uns als Kirchen und zu ihnen als evangelische Kirche im Moment?

Gidion: Natürlich gibt es nicht "die" Politik, sondern es gibt Menschen, die Politik machen. Was ich im Moment erlebe in meinem sechsten Monat im Amt, ist eine unglaubliche Diversifizierung der Einschätzungen des Verhältnisses zu Kirche. In der vergangenen Woche hatte ich meinen 106. Antrittsbesuch. Abgeordnete, Kabinettsmitglieder und Staatssekretär:innen reagieren nach wie vor auf einen Brief, den ich ganz am Anfang meiner Zeit hier geschrieben hatte. Katholisch gesagt war dies ein "Adsum-Schreiben", mit dem ich gesagt habe: Ich bin jetzt da, ich bin die Neue. Die Reaktionen darauf lassen nicht nach. In den Sitzungswochen gibt es zum Teil sechs solcher Antrittsbesuche am Tag. Ich habe einen Bundestags-Hausausweis, darf mich da frei bewegen – und ich bin ja Pastorin. Insofern lerne ich gerade meine Gemeinde kennen. Da finden sich viele neue Player zusammen: Die Ampel ist für uns als Kirche ein neues Gegenüber, es gibt einen relativ neuen Rat der EKD und ich bin die Neue an der Schnittfläche. Ich führe auch wirklich sehr berührende Gespräche, weil das Etikett "Kirche" bei nicht wenigen Menschen dazu führt, dass sie persönliche Dinge erzählen. Zum Teil gab es auch kontroverse Gespräche, weil das Gegenüber bestimmte Vorstellungen davon hatte, wie Kirche sein oder auch gerade nicht sein soll. Dieses ordne ich ein oder versuche darauf Resonanz zu geben.

Prälat Karl Jüsten in Berlin
Bild: ©KNA/Jannis Chavakis

Das katholische Gegenüber von Anne Gidion ist Karl Jüsten, der Leiter des Katholisches Büro in Berlin.

Frage: Die Ampelkoalition ist nicht so kirchlich eingestellt, wie es die Vorgängerregierung war. Der Kanzler und auch verschiedene Minister haben bei ihrer Vereidigung auf den Gottesbezug verzichtet. Kommt einem da Misstrauen entgegen?

Gidion: Auf den Gottesbezug in der Vereidigung haben Kabinettsmitglieder immer wieder verzichtet, auch in vergangenen Legislaturperioden. Das ist ein gutes Recht. Nicht jeder, der den Gottesbezug verwendet, ist außerdem kirchenaffin. Und nicht jeder, der ihn nicht verwendet, hat kein offenes Ohr für kirchliche Positionen. Das würde ich grundsätzlich entkoppeln. Hinter dem öffentlichen Bekenntnis zu Gott steht oft die Frage, wie öffentlich die betreffende Person ihre Verbindung zum Glauben machen möchte. Da hat jede und jeder das gute Recht, die Gottesfundierung seines Handelns auch nicht öffentlich zu machen. Das sehe ich auch bei manchen der Abgeordneten. Im Kürschner (Kürschners Volkshandbuch, informiert über Wissenswertes rund um den Bundestag, d. Red.), in dem sich der Bundestag abbildet, gibt es auch Menschen, die ihre Religionszugehörigkeit nicht angegeben haben, weil auch das ihr Recht ist. Sie sind zugehörig, sie sehen ihren Glauben aber nicht als eine öffentliche Angelegenheit. Auch in anderen Fragen ist die Ampel in sich divers. Manche beschreiben die Koalition als eine regierungs- oder kabinettsinterne Oppositionskonstruktion, die integrieren muss, was auch gesamtgesellschaftlich in Spannung steht. Es gibt FDP-Minister, die das Wort Demokratie nicht benutzen ohne den Zusatz "liberal". Auf der anderen Seite gibt es grüne Verantwortungstragende, die sehr stark das Thema Minderheitenschutz und die diverse Gesellschaft in den Mittelpunkt stellen und Politik umfassend darauf ausrichten wollen. Und die Sozialdemokratie dazwischen kommt mir im Moment stark wie die ausgleichende Kraft vor, die versucht, aus ihrer Regierungserfahrung heraus das auch zusammenzuhalten. Das ist ein komplexes Mobile. Meiner Überzeugung nach ist es gut, nicht zu früh pauschal davon auszugehen, dass diese Ampel religionsfeindlich eingestellt ist. Die multiplen Krisen fordern alle. Es gibt existenzielle Fragen: Man kommt aus Corona gerade herausgetorkelt und findet sich fast unvermittelt in einer Waffenlieferungs-Diskussion, in friedensethischen Debatten und in bioethischen Debatten, die wir alle so noch nicht hatten. Da ist die Politik wie auch die Kirche – und ich sage jetzt bewusst "die Kirche" und meine das Gros, schon durch deutlich bessere Zeiten gegangen. Insofern geht es für mich immer wieder und gerade jetzt darum, vernünftige Kontaktschnittstellen zu finden und zu sagen: Wir arbeiten gemeinsam daran, in dieser Gesellschaft Stabilität und Kohärenz zu schaffen und zu erhalten. Wir ringen darum, dass uns das Gemeinwohl nicht auseinanderfliegt. Da gibt es genug zu tun.

Frage: Den Bundeskanzler kennen Sie ja schon aus Ihrer Zeit in Hamburg. Konnten Sie sich mit dem schon austauschen oder gab es dazu noch keine Gelegenheit?

Gidion: Einen expliziten Antrittsbesuch hat es noch nicht gegeben, was ich angesichts des Terminkalenders von Herrn Scholz mehr als nachvollziehbar finde. Aber wir haben uns ein paar Mal am Rande von Terminen gesehen. Eine sehr besondere Situation war zum Beispiel das Pontifikalamt für den verstorbenen Papst. Da war ich Teil der Delegation des Bundespräsidenten, gemeinsam mit allen Verfassungsorganen.

Bild: ©picture alliance / dpa | Bernd Settnik

Einer der Arbeitsplätze von Prälatin Anne Gidion: Das Berliner Regierungsviertel rund um den Reichstag und das Brandenburger Tor.

Frage: Sie haben es gesagt, wir sind gesellschaftlich in einer Situation mit großen Herausforderungen, wie der Corona-Pandemie und dem Ukraine-Krieg. Interessiert sich die Politik da überhaupt für Kirche, oder gibt es ganz andere Prioritäten?

Gidion: Am 24. Februar, ein Jahr nach Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine, habe ich mit dem Leiter des Katholischen Büros Berlin, Prälat Jüsten, und Bischof Emmanuel von Christoupolis, also dem orthodoxen Vertreter im politischen Berlin, gemeinsam ein Friedensgebet gehalten, morgens um acht Uhr. Da waren für mich unerwartet viele Menschen aus dem politischen Raum, Kabinettsmitglieder Staatssekretär:innen und Minister:innen anwesend. Ein Gebet für den Frieden inmitten der Ratlosigkeit. Es war auch der Versuch, ein Hoffnungswort zu geben. Mich hat das berührt, in welchem Ausmaß Menschen, die die ganze Zeit in der ersten Reihe der Verantwortung stehen, so eine Situation der Besinnung und der Hoffnung auch für sich suchen. Solche Angebote und Gelegenheiten zu schaffen, das ist viel mehr mein Anspruch als ein Betteln um Aufmerksamkeit für kirchliche Belange. Ich empfinde uns als Kirchen im politischen Geschäft auch als Dienende. Ich finde, wir könnten noch viel mehr tun. Meine Dienststelle veranstaltet zum Beispiel nächste Woche einen Gottesdienst mit der Berliner Stadtmission, der heißt "Heilsame Unterbrechung". Da kommen Menschen, die sagen, sie wollen genau das, eine heilsame Unterbrechung ihres Alltags. Andere suchen ein Gespräch, bei dem es nicht darum geht, eine bestimmte Agenda abzuarbeiten. Ich treffe nicht wenige Menschen zum Vier-Augen-Gespräch, bei dem ich spüre, dass mein Gegenüber extrem froh ist, eine Zeit lang nicht im Scheinwerferlicht zu stehen oder unter Entscheidungsdruck. Insofern würde ich sagen: Fangen wir doch einfach gerne damit an, politischen Entscheidungsträger:innen Entlastung zu bieten und uns nicht die ganze Zeit einzureihen in die Reihe derjenigen, die nur fordern.

Frage: Antonius Hamers vom Katholischen Büro NRW sagt, er betrachtet sich als katholischer Lobbyist. Sie sagen ja im Prinzip jetzt eigentlich eher das Gegenteil. Sie machen nicht Werbung, sondern Sie bieten sich als Gesprächspartnerin an?

Gidion: Ich sehe darin keinen Widerspruch. Aber ich sehe mich lieber als Diplomatin denn als Lobbyistin. Meine Rolle ist dreifach: Meine Dienststelle und ich vertreten evangelische, kirchliche und auch ökumenische Positionen in Themen, so das möglich ist und so es diese klar benennbar gibt. Zentral ist dabei der Schutz der Schwachen und derer, die in der Gesellschaft kaum eine Stimme haben. Zweitens habe ich eine repräsentative Rolle, siehe Papst-Begräbnis. Und dann gibt es eben die seelsorgerliche Funktion: Die evangelischen Abgeordneten des Deutschen Bundestages und die Mitarbeitenden, so sie das möchten, könnten Seelsorge in Anspruch nehmen. Mir ist das Seelsorgerliche wichtig, aber mir ist auch wirklich wichtig, im Gespräch zu sein. Das klingt wenig, aber es ist aus meiner Sicht so viel.

Von Renardo Schlegelmilch