Die Ampel will die Ersatzfreiheitsstrafe reformieren – und erntet Kritik

Gefängnis fürs Schwarzfahren? Warum auch die Kirchen das falsch finden

Veröffentlicht am 11.04.2023 um 00:01 Uhr – Von Steffen Zimmermann – Lesedauer: 

Berlin ‐ Jedes Jahr müssen tausende Menschen in Deutschland ins Gefängnis, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen können. Diese Regelung ist umstritten und soll nun zumindest teilweise geändert werden. Der Reformvorschlag der Ampelkoalition stößt allerdings auf deutliche Kritik – auch bei den Kirchen.

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"Könnten Sie Herrn K. schnell freikaufen? Er kann kein Deutsch und versteht nicht, dass er wegen Fahren ohne Ticket im Gefängnis sein muss. Niemand hier kann sich mit ihm unterhalten und er hat Panikattacken." Diese Nachricht bekam die Initiative "Freiheitsfonds" Mitte März nach eigenen Angaben von einer Justizvollzugsanstalt (JVA). In einer anderen Nachricht hatte ein verzweifelter Häftling kurz vorher geschrieben: "Mein Vater verstarb vor drei Jahren, da fing die Demenz meiner Mutter an. Meine Schwester verstarb danach und jetzt kümmere ich mich allein um meine Mutter. Das geht durch meine Inhaftierung nicht mehr. Bitte ermöglichen Sie mir, dass ich wieder für meine Mutter sorgen kann."

"Freiheitsfonds" ist eine im Dezember 2021 gegründete private Organisation, die sich auf Gefangenenbefreiung spezialisiert hat. Nicht auf illegale Weise, sondern indem sie mit Hilfe von Spenden Geldstrafen von Menschen bezahlt, die nur wegen Beförderungserschleichung – besser bekannt als Schwarzfahren – im Gefängnis sitzen. Mehr als 700 Personen hat die Initiative nach eigenen Angaben bislang freigekauft und dafür in den vergangenen eineinviertel Jahren rund 667.000 Euro bezahlt.

Umstrittener Paragraf aus der Zeit des Nationalsozialismus

Dass Menschen in Deutschland im Gefängnis landen können, obwohl sie lediglich wiederholt ohne Ticket Bahn oder Bus gefahren sind, liegt an Paragraf 265a des Strafgesetzbuches (StGB). Darin heißt es: "Wer die Leistung eines Automaten oder eines öffentlichen Zwecken dienenden Telekommunikationsnetzes, die Beförderung durch ein Verkehrsmittel oder den Zutritt zu einer Veranstaltung oder einer Einrichtung in der Absicht erschleicht, das Entgelt nicht zu entrichten, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist." Es geht in dem Paragrafen also generell um das Erschleichen von Leistungen, im Alltag der deutschen Gerichte steht im Zusammenhang mit dem Regelwerk aber vor allem das Schwarzfahren im Mittelpunkt.

Der Paragraf, der noch aus der Zeit des Nationalsozialismus stammt, ist seit vielen Jahren umstritten. Dass Menschen, die ohne gültigen Fahrschein in der Bahn erwischt wurden, eher im Gefängnis landen können als Menschen, die betrunken Auto gefahren sind und andere gefährdet haben, empfinden viele als nicht nachvollziehbar und ungerecht.

„Das sind keine Fälle fürs Gefängnis, sondern zum Beispiel für aufsuchende Sozialarbeit. Soziale Defizite können außerhalb einer Justizvollzugsanstalt billiger gelöst werden.“

—  Zitat: JVA-Leiter Uwe Meyer-Odewald über die Betroffenen von Ersatzfreiheitsstrafen

Dabei werden Schwarzfahrer von deutschen Gerichten eigentlich nur in Ausnahmefällen zu Haftstrafen verurteilt, in aller Regel bekommen die Betroffenen Geldstrafen aufgebrummt. Dass viele Verurteilte schließlich trotzdem in einer JVA landen, liegt in den vielen Fällen daran, dass die meist wirtschaftlich schwachen Betroffenen die ihnen auferlegte Geldstrafe nicht bezahlen können. Als Konsequenz kann dann eine Ersatzfreiheitsstrafe verhängt werden. Auch das ist im StGB geregelt: "An die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe tritt Freiheitsstrafe. Einem Tagessatz entspricht ein Tag Freiheitsstrafe. Das Mindestmaß der Ersatzfreiheitsstrafe ist ein Tag", heißt es in Paragraf 43.

"Die Ersatzfreiheitsstrafe ist gewissermaßen ein Backup für die Geldstrafe", erläuterte jüngst der Augsburger Strafrechtsprofessor Michael Kubiciel im Deutschlandfunk. Die Logik dahinter: Drohe keine Konsequenz, wenn verurteilte Straftäter ihre Geldstrafe nicht zahlen – warum sollten sie es dann überhaupt tun? "Damit dann das staatliche Strafsystem irgendwie noch reagiert auf ihre Straftat, tritt dann eben als Ersatz, als Auffangmöglichkeit die Verhängung einer Freiheitsstrafe ein", so Kubiciel.

"Das sind keine Fälle fürs Gefängnis"

Dadurch passiert es, dass Menschen im Gefängnis landen, über die ein Gericht eigentlich zuvor geurteilt hatte, dass eine Haftstrafe für ihre Tat nicht angemessen ist. Und das ist kein Randphänomen: Laut verlässlichen Schätzungen – genaue bundesweite Zahlen gibt es nicht – werden in Deutschland jedes Jahr rund 50.000 Menschen wegen einer Ersatzfreiheitsstrafe inhaftiert. Die meisten von ihnen sind arbeitslos, ohne festen Wohnsitz und suizidgefährdet. Uwe Meyer-Odewald, der Leiter der Berliner JVA Plötzensee, in der derzeit rund 260 Gefangene eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen, beschreibt die Betroffenen so: "Es sind Wohnungslose, es sind teilweise Menschen mit einem desaströsen sozialen Umfeld, finanziell, sozial, gesundheitlich. Es gibt Schätzungen, dass ungefähr 60, 70 Prozent massiv drogen- und alkoholabhängig sind. Es sind einfach Menschen, die ihr Leben nicht mehr im Griff haben."

Meyer-Odewald ist der Ansicht, dass eine Haftanstalt für solche Menschen der gänzlich falsche Ort ist. Denn: Resozialisierungsmaßnahmen, die es im normalen Strafvollzug gibt, sind bei der Ersatzfreiheitsstrafe nicht vorgesehen. Auch, weil die Aufenthaltsdauer der Betroffenen für nachhaltige Maßnahmen wie eine Ausbildung oder eine Psychotherapie viel zu kurz ist. "Das sind keine Fälle fürs Gefängnis, sondern zum Beispiel für aufsuchende Sozialarbeit. Soziale Defizite können außerhalb einer Justizvollzugsanstalt billiger gelöst werden. Der Justizvollzug kann jedenfalls nicht der Reparaturbetrieb für sozialstaatliche Versäumnisse sein", so der Gefängnisleiter in der "taz".

Bild: ©picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild/Jens Kalaene

Der Reformvorschlag von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) stößt in der Ampelkoalition und bei externen Experten auf Kritik.

Ganz ähnlich sieht das auch die rot-grün-gelbe Bundesregierung: "Die Anzahl der verurteilten Personen, die wegen Nichtzahlung einer gegen sie verhängten Geldstrafe eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen, ist in den letzten zwei Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen. Gleichzeitig sind die Möglichkeiten der Resozialisierung im Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe beschränkt." Deshalb solle bundesrechtlich eine "substanzielle Reduzierung der zu vollstreckenden Ersatzfreiheitstrafen befördert werden".

Um dieses Ziel zu erreichen, hat Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) einen Gesetzentwurf vorgelegt, der vor Kurzem in erster Lesung im Bundestag diskutiert wurde. Laut dem Entwurf soll die Ersatzfreiheitstrafe nicht vollständig abgeschafft, aber deutlich reduziert werden. Der Umrechnungsmaßstab einer Geldstrafe in eine Ersatzfreiheitstrafe solle so geändert werden, dass statt einem künftig zwei Tagessätze einem Tag Ersatzfreiheitsstrafe entsprächen. "Dadurch halbiert sich die Anzahl der Tage der an die Stelle der Geldstrafe tretenden Ersatzfreiheitsstrafe, was es der verurteilten Person zudem erleichtern kann, deren Vollstreckung ganz zu vermeiden", so die Begründung der Bundesregierung.

Reformvorschlag der Bundesregierung ist umstritten

Der Vorschlag ist allerdings umstritten; vielen Kritikern – auch innerhalb der Ampelkoalition – geht er nicht weit genug. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Fechner etwa bezeichnete den Gesetzentwurf im Parlament zwar als "Schritt in die richtige Richtung", trotzdem gebe es noch Diskussionsbedarf: "Denn auch wenn wir die Haftstrafe halbieren, wird die Person ja immer noch aus dem Leben gerissen, verliert ihren Arbeitsplatz, möglicherweise die Wohnung oder den Therapieplatz."

Ähnlich sieht das der Kriminologe Tobias Singelnstein. Aus kriminologischer Sicht brauche es die Ersatzfreiheitsstrafe nicht, sie sei vielmehr kontraproduktiv. Warum der Gesetzgeber mit der Reform dennoch nur den halben Weg gehen wolle, sei ihm schleierhaft. "Offenbar besteht die Sorge, dass Menschen ohne diese Drohgebärde nicht zahlen würden. Die Realität sieht aber anders aus. Die Menschen, die nicht zahlen, sind vor allem solche, denen die sozialen Ressourcen und Kapazitäten fehlen, mit Strafverfahren und Geldstrafe umzugehen, die nicht in der Lage sind, die Haftstrafe abzuwenden", so der Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main gegenüber dem "Tagesspiegel".

Linktipp

Die Gemeinsame Stellungnahme des Kommissariats der deutschen Bischöfe Katholisches Büro in Berlin, des Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union und der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe (BAG-S) zum Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz eines Gesetzes zur Überarbeitung des Sanktionenrechts  Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Auflagen und Weisungen sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt finden Sie im Wortlaut auf der Internetseite des Katholischen Büros in Berlin.

Auch die beiden großen Kirchen haben sich bereits im vergangenen Jahr kritisch zu den Plänen von Minister Buschmann geäußert. Zwar begrüßen sie in einer gemeinsamen Stellungnahme "grundsätzlich" die geplante Änderung des Umrechnungsmaßstabs für die Ersatzfreiheitsstrafe, "da jeder Tag in Haft aufgrund einer zu verbüßenden Ersatzfreiheitsstrafe, der vermieden werden kann, hilfreich ist". Allerdings setze die Regierung mit ihrem Entwurf bei den Änderungen der Ersatzfreiheitsstrafe an einem zu späten Zeitpunkt an. Damit löse sie das bestehende Problem nicht, dass die Ersatzfreiheitsstrafe – wenn auch um die Hälfte reduziert – nicht vorrangig vermieden werde. Auch nach der Reform seien Menschen in prekären Lebenssituationen weiterhin einem stark erhöhten Risiko ausgesetzt, aufgrund einer Ersatzfreiheitsstrafe inhaftiert zu werden.

Die Kirchen sprechen sich deshalb dafür aus, die Berechnung von Geldstrafen bei Betroffenen, die Sozialleistungen empfangen, zu ändern und vom bislang angewendeten  Nettoprinzip abzuweichen. Statt einer Tagessatzhöhe von oftmals fünf bis zehn Euro solle der Satz bei Leistungsempfängern auf maximal drei Euro und in "besonders gelagerten Fällen" sogar auf einen Euro reduziert werden. Außerdem plädieren die Kirchen dafür, die betroffene Person vor der Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe richterlich anzuhören.

Die meisten Betroffenen kriegen bisher gar keinen Richter zu Gesicht

Der Hintergrund: Die meisten Geldstrafen werden in Deutschland in Strafbefehlsverfahren festgesetzt. Dabei verhängt ein Richter die Geldstrafe auf Antrag der Staatsanwaltschaft, ohne dass es einen Prozess gibt und der Richter den Betroffenen überhaupt zu Gesicht bekommt. Die Kirchen wollen, dass diese Praxis geändert wird. "Zumindest sollte aber vor der Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe bei vorher durchgeführtem Strafbefehlsverfahren entweder bereits im Erkenntnisverfahren oder im Vollstreckungsverfahren die betroffene Person richterlich angehört werden", schreiben sie in ihrer Stellungnahme. Diesem Lösungsansatz liege der im Grundgesetz normierte Rechtsgedanke zugrunde, "dass nur eine Entscheidung über eine Freiheitsentziehung als Ultima Ratio nach einer mündlichen Anhörung durch den Richter oder die Richterin erfolgen darf". Auf diese Weise könne der Richter sich einen persönlichen Eindruck von der angeklagten Person machen und ein der Tat und Schuld angemessenes Urteil fällen.

Ob die Kirchen und die anderen Kritiker der geplanten Reform beim Bundesjustizminister und der Koalition Gehör finden, wird sich im weiteren Gesetzgebungsverfahren zeigen. Klar ist aber: Solange die Reform noch nicht beschlossen ist, wird der "Freiheitsfonds" versuchen, weiterhin so viele Schwarzfahrer wie möglich aus den Gefängnissen freizukaufen.

Von Steffen Zimmermann