Wie raus aus der Sackgasse?
Für Papst Franziskus , der mit seiner unmissverständlichen Verurteilung "Diese Wirtschaft tötet!" einen der knappsten Klassiker der Kapitalismuskritik geliefert haben dürfte, bietet diese Zahl indes eine unerwartete Chance. Wollte er der absoluten Wirtschafts- und Machtelite einmal persönlich ins Gewissen reden, könnte er sie nun einfach zu einer seiner Morgenmessen in die Kapelle des vatikanischen Gästehauses einladen. Der kircheneigene Corpo della Gendarmeria bräuchte dabei noch nicht einmal mit einem Stau an einem der Tore des Vatikans zu rechnen: Für den Transfer dieser ganz speziellen Gottesdienstbesucher von ihren Hotels ins Domus Sanctae Marthae würde ein einziger moderner Reisebus voll ausreichen.
Angesichts seiner mittlerweile erwiesenen Vorliebe für das Unerwartete ist es keineswegs ausgeschlossen, dass der Heilige Vater den hier beschriebenen Weg der Gewissensbildung auch tatsächlich einmal einschlagen wird. Für den Moment hat er sich jedoch anders entschieden, wenngleich kaum weniger wirksam: In einem Brief an Klaus Schwab, den Gründer und Präsidenten des seit heute in Davos tagenden Weltwirtschaftsforums , verlangt er von den in der Schweiz versammelten rund 2.500 Politikern, Managern, Wissenschaftlern und Künstlern, "sicherzustellen, dass Wohlstand der Menschheit dient, anstatt sie zu beherrschen."
Weltweit zunehmende Ungleichheit als große Gefahr
In dem von Kurienkardinal Peter Turkson verlesenen Schreiben bleibt Franziskus seinem Kurs treu, den von ihm kritisierten Kapitalismus nicht pauschal durch ein anderes Wirtschaftssystem ersetzen zu wollen, sondern vielmehr dessen grundlegende Reform zu fordern. Er will eine Wirtschaft, die die Bedürfnisse aller Menschen befriedigt und nicht nur die abgehobenen Interessen von ein paar Buspassagieren.
Bei den Veranstaltern des Weltwirtschaftsforums könnte der Papst mit einer solchen Position durchaus auf Sympathie hoffen. In ihrem Ausblick auf die globale Tagesordnung für das Jahr 2014 bezeichnet die Organisation die weltweit zunehmende Ungleichheit an Einkommen und Besitz als eine der größten Gefahren der kommenden zwölf bis achtzehn Monate: kein Wunder angesichts von Zahlen wie denen von Oxfam, nach denen das reichste Prozent der Weltbevölkerung über die unvorstellbare Summe von 110 Billionen US-Dollar und damit über annähernd die Hälfte des weltweiten Reichtums verfügt. Sieben von zehn Menschen auf der Erde leben in Ländern, in denen die Einkommensungleichheit in den letzten dreißig Jahren zugenommen hat.
Systemveränderungen als Akt gesellschaftlicher Vernunft
Darin einen Fehler zu sehen, hat nichts mit Neid zu tun. Hier Abhilfe zu schaffen, ist vielmehr ein Akt der gesellschaftlichen Vernunft, soll sich nicht ein kaum mehr zu bändigendes Potential an sozialer Sprengkraft ansammeln. Die Hoffnung, dass das sagenhafte Vermögen einiger weniger Reicher langfristig auch den vielen Armen zu Gute kommen und damit die ungerechte Verteilung quasi automatisch auflösen würde, verwarf der Papst schon in seinem letzten Lehrschreiben Evangelii Gaudium mit der lapidaren Feststellung: "Diese Ansicht, die nie von den Fakten bestätigt wurde, drückt ein undifferenziertes, naives Vertrauen auf die Güte derer aus, die die wirtschaftliche Macht in Händen halten."
Nur eine Umkehr kann die Weltgesellschaft damit noch aus der Sackgasse führen, in die sie sich mit ihrer einseitigen Profitorientiertheit selbst gesteuert hat. Diese Meinung scheint sich inzwischen sogar beim sicherlich nicht unbedingt revolutionär gesinnten Weltwirtschaftsforum durchzusetzen, trägt seine diesjährige Tagung doch den Titel "Die Neugestaltung der Welt und deren Bedeutung für Gesellschaft, Politik und Wirtschaft".
Forums-Chef: Kollektives Versagen der Wirtschaftselite
Forums-Chef Schwab warf den internationalen Wirtschaftsführern in einem Kommentar der "Neuen Zürcher Zeitung" jedenfalls bereits "kollektives Versagen" im Umgang mit der Globalisierung vor und hielt ihnen vor Augen, die moderne Welt habe zwei Seiten, "eine glänzende Vorderseite und eine komplexe und unberechenbare Kehrseite."
So weit sind der Professor und der Papst also offensichtlich nicht auseinander: Wenn der eine sich zur Kehrseite des Glanzes aufmacht und der andere mit seiner Kirche an die Ränder der Gesellschaft geht, könnten sich beide begegnen. Man darf gespannt sein, was sich daraus ergibt.
Von Uwe Bork