Baustelle Grundordnung – das Recht ist neu, die Verletzungen bleiben
Ein halbes Jahr nach dem Beschluss der neuen Grundordnung des kirchlichen Dienstes zog eine Tagung in Münster am Freitag und Samstag eine erste Zwischenbilanz und widmete sich unter dem Titel "Kirche ohne Angst" der Situation von queeren Kirchenbeschäftigten. Zwei Tage lang diskutierten Theologinnen und Theologen, Fachleute aus der Rechtswissenschaft und Verantwortliche für Queerpastoral und Engagierte aus dem Umfeld von #OutInChurch. Organisiert wurde die Tagung unter anderem vom katholischen LSBT+-Komitee und der Arbeitsgemeinschaft der Queerseelsorge der Bistümer. Viele der Teilnehmenden sind selbst in der Initiative #OutInChurch aktiv. Das prägte die Diskussionen: Die vordergründig arbeitsrechtliche Fachtagung war so vor allem von den vielfältigen Verletzungen geprägt, die queere Menschen in der Kirche davongetragen haben. Bei den Gesprächen am Rand des Programms wurde deutlich, dass die Kirche nicht auf einen Vertrauensvorschuss ihrer queeren Beschäftigten hoffen kann, nur weil das Arbeitsrecht nun mit Blick auf Diskriminierungsfreiheit und Wertschätzung von Vielfalt reformiert wurde. Eine Aufarbeitung dieses Leids und eine Entschuldigung dafür steht noch aus.
Das entlud sich bei der Podiumsdiskussion am Freitagabend. Vor allem der Münsteraner Generalvikar Klaus Winterkamp erfuhr deutlichen Widerspruch. Für ihn hat die neue Grundordnung vor allem bewirkt, dass die bisher schon gute Praxis nun auch offen vertreten werden kann. Schon vor der Reform habe es in der Regel keine Sanktionen für Loyalitätsverstöße im Bereich der Lebensform gegeben. Schwieriger sei es nur für pastorale Mitarbeitende gewesen. Der #OutInChurch-Initiator Jens Ehebrecht-Zumsande wollte dieses Argument nicht gelten lassen: Schon die Notwendigkeit von Einzelfalllösungen zur Umgehung geltenden Rechts sei das Problem. #OutInChurch hätte es nicht gebraucht, wenn die Situation vor der neuen Grundordnung wirklich so konfliktfrei gewesen wäre. Mara Klein, als Mitglied der Synodalversammlung am Synodalen Weg beteiligt, pflichtete Ehebrecht-Zumsande bei. Klein vermisste Demut von offizieller Seite angesichts der Schuldgeschichte der Kirche. Selbstkritische Stimmen bei der Veröffentlichung der neuen Grundordnung habe es nicht gegeben, stattdessen hätten Bistümer den Eindruck erweckt, schon immer queerfreundlich agiert zu haben.
Aufarbeitung des Leids durch Arbeitsrecht steht noch aus
Für den Generalvikar ist mit der neuen Grundordnung die größte Baustelle die Frage nach einem Kulturwandel: Nun müsse in allen Einrichtungen, auch im Generalvikariat, geklärt werden, woraus jeweils das christliche Profil genau bestehe. Ausdrücklich ermutigte Winterkamp auch queere Menschen, sich für pastorale Berufe zu bewerben. "Man kann bei uns auch wenn man queer ist gut arbeiten", versicherte er für sein Bistum. Auf Forderungen nach einer Aufarbeitung des Leids, das die Kirchen durch ihr Arbeitsrecht erzeugt haben, reagierte Winterkamp ausgesprochen zurückhaltend: Die Aufarbeitung des Missbrauchs nehme einen so großen Arbeitsumfang ein, dass weitere parallele Aufarbeitungsprozesse kaum zu leisten wären.
Der Essener Weihbischof Ludger Scheepers, der in der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) für die Queerpastoral zuständig ist, berichtete auf dem Podium von seinen Eindrücken bei der Synodalversammlung. Die Ablehnung des Papiers zur Sexualmoral sei für ihn schockierend gewesen. "Wie da über Menschen geredet wurde, die im Raum waren, hat mich zutiefst erschrocken." Seinen Mitbrüdern in der Bischofskonferenz warf er mangelndes Engagement im Vorfeld vor. Nur fünf Bischöfe seien bei dem letzten Hearing zum Papier zur Sexualmoral gewesen. "Das war eine Sternstunde der Diskussion, aber meine bischöflichen Mitbrüder waren nicht da", klagte der Weihbischof. Nach Ansicht Scheepers seien im Synodalforum theologische Modelle entwickelt worden, mit denen sowohl die Bipolarität der Geschlechter wie ihre Vielfalt überzeugend zusammen gedacht werden können. Seine eigene Rolle als Queerbeauftragter in der DBK bezeichnete der Weihbischof als Alibi-Funktion, solange für diese Arbeit keine Ressourcen bereitstehen.
Die Grundordnung selbst wurde von den Expertinnen und Experten durchweg positiv bewertet, wenn auch noch nicht alle Fragen gelöst seien. So würdigte der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller die neue Grundordnung als deutliche Zäsur. Es sei aber ein Selbstbetrug, zu glauben, die Bischöfe wären den Schritt aus eigener innerer Überzeugung gegangen: Der Druck zur Reform kam von den Gerichten, zeigte sich Schüller überzeugt. Vor allem der EuGH habe sich nicht mehr damit zufrieden gegeben, den Kirchen unter Verweis auf ihre kollektive Religionsfreiheit einen großen Spielraum zu erlauben. Erst diese realistische rechtliche Drohkulisse, dass strengere Loyalitätsobliegenheiten letzten Endes keinen Bestand vor den Gerichten haben würden, habe nach Ansicht Schüllers einige zweifelnde Bischöfe von der Reform überzeugt.
Rom schaut kritisch auf die neue Grundordnung
Für den Kirchenrechtler ist die neue Grundordnung aber bei allen Fortschritten nicht genug. "Es wäre dringend an der Zeit, dass sich alle Bischöfe für diese menschenrechtsverletzenden Verhaltensweisen bei der Durchsetzung des Arbeitsrechts öffentlich entschuldigen, die viele Menschen und ihren Glauben zerstört haben", forderte auch Schüller. Außerdem gebe es immer noch offene Fragen. Der Kirchenrechtler nannte die Diskrepanz zwischen der Wertschätzung von Vielfalt im Arbeitsrecht bei immer noch unveränderter Morallehre der Kirche. Menschen nicht-binärer geschlechtlicher Identität seien noch nicht angemessen im Rechtstext berücksichtigt, es sei noch nicht klar, was genau unter kirchenfeindlichem Verhalten zu fassen sei, und beim Kirchenaustritt warte man lieber auf ein Machtwort des EuGH, als aus eigener Kraft eine Lösung zum Umgang zu finden. Aus Gesprächen in Rom berichtete Schüller, dass beim Dikasterium für die Gesetzestexte die neue Grundordnung kritisch geprüft werde.
Die Sozialethikerin Marianne Heimbach-Steins, auch sie lehrt in Münster, befasste sich in ihrem Vortrag mit theologisch-sozialethischen Perspektiven auf geschlechtliche Vielfalt. Beim Umgang der Kirche mit queeren Menschen konstatierte sie Ungereimtheiten mit Blick auf den Anspruch, die Würde jedes Menschen anzuerkennen. Sie setzte sich dafür ein, tradierte Vorstellungen von Geschlechterbildern auf den Prüfstand zu stellen – auch biblische Aussagen zur Geschlechteranthropologie. Heimbach-Steins betonte, dass der Umgang mit Sexualität weder Glaubensartikel noch Dogma sei. Man müsse also auch klären, welchen Stellenwert man dem gesamten Komplex von Fragen der Sexualität und Geschlecht für die katholische Identität überhaupt einräumen wolle.
Anerkennungskämpfe queerer Menschen wie die Aktion "#OutInChurch" sah die Sozialethikerin als Zeichen der Zeit, das es zu lesen gelte. Die Kirche müsse das Erfahrungswissen der Menschen ernst nehmen und sich für humanwissenschaftliche Erkenntnisse öffnen. "Solange sich die Kirche dem Zuwachs des Wissens über Vielfalt und Komplexität menschlicher Geschlechtlichkeit verschließt und deshalb Menschen ausschließt, ist sie für Personen ein gefährlicher Ort, die aufgrund ihrer Geschlechtsidentität und ihrer sexuellen Orientierung nicht anerkannt werden", sagte sie – bis hin zum Suizid treibe die Kirche mit ihrer Lehre manche queere Menschen.
Lehramt tut sich schwer mit zeitgenössischen Erkenntnissen
Momentan verweigere sich das Lehramt noch, zeitgenössische Erkenntnisse für die Auslegung christlicher Glaubensüberlieferung zu nutzen. Dabei gebe es eigentlich Beispiele dafür, dass die Kirche dazulernt und eigene Fehleinschätzungen korrigiert. Heimbach-Steins führte den Fall Galileo Galileis an. Papst Johannes Paul II. hatte bei seiner Rehabilitierung des Astronomen 1992 darauf verwiesen, dass die Frage nach dem heliozentrischen Weltbild sowohl die Natur der Wissenschaft wie die der Glaubensbotschaft betreffe. Die Kirche habe im Lauf der Jahrhunderte von den Naturwissenschaften dazugelernt. Das kann nach Ansicht des Papstes auch in anderen Fällen gelten: "Es ist daher nicht auszuschließen, daß wir uns eines Tages vor einer analogen Situation befinden, die von beiden Teilen ein waches Bewusstsein vom eigenen Zuständigkeitsbereich und seinen Grenzen erfordern wird." Johannes Paul II. lobte Galilei, der sich weitsichtiger als seine theologischen Gegner gezeigt hatte. "Wenn schon die Schrift nicht irren kann, so können doch einige ihrer Erklärer und Deuter in verschiedener Form irren", zitierte der Papst aus einem Brief des Astronomen von 1613. Für Heimbach-Steins kann das ein Ansatzpunkt auch für die moralische Bewertung von Sexualität und Geschlecht sein. "Wenn wir heute vom Menschen als Geschöpf, Kind Gottes und Adressat der Erlösung reden, dann ist das nur möglich, wenn heutiges Wissen über den Menschen einbezogen wird", betonte sie.
Für die Sozialethikerin ist der Ansatzpunkt für eine Veränderung der Sexuallehre der Bezug auf die Menschenwürde. Auf dieser Basis lasse sich eine diversitätssensible Ethik der Geschlechtlichkeit entwickeln. Katholische Identität müsse auf dem Schutz der Menschenwürde aufbauen, nicht in einer exklusiven, verurteilenden Ethik. Diese Perspektive nahm auch der Freiburger Caritaswissenschaftler Klaus Baumann ein. Mit der neuen Grundordnung geht für ihn auch eine positive Neubestimmung der Loyalitätsanforderungen an alle im kirchlichen Dienst einher. Diese besteht für ihn in Übereinstimmung mit der nun geltenden rechtlichen Lage nicht mehr im Privatleben der Beschäftigten, sondern – und hier geht er über den Rechtstext hinaus – in der Fähigkeit und der Selbstverpflichtung, die eigene dienstliche Rolle und Autorität nicht zur Befriedigung narzisstischer, erotischer, sexueller, finanzieller und aggressiver Bedürfnisse zu missbrauchen.
Die Verabschiedung und Inkraftsetzung der neuen Grundordnung – ab April gilt sie deutschlandweit in allen katholischen Einrichtungen – ist nur ein erster Schritt. Darin waren sich alle Beteiligten bei der Tagung einig. Es bleiben einige rechtliche Baustellen, etwa beim Kirchenaustritt. Es bleiben aber vor allem die vielen Menschen, für die mit der Reform vergangenes Leid noch lange nicht angemessen gewürdigt und gelindert wurde. Noch warten diese Menschen auf eine Bitte um Entschuldigung der Kirche.