Schwule Erotik und Macht: Queere Exegese in der christlichen Tradition
Nicht zuletzt durch den Synodalen Weg und die Initiative #OutInChurch wird die Bedeutung sexueller Vielfalt in Glaube und Kirche diskutiert. Wie sieht es damit in der Bibel aus? Andreas Krebs ist Professor für Alt-Katholische und Ökumenische Theologie und Direktor des Alt-Katholischen Seminars der Universität Bonn, Queere Theologie ist eines seiner Forschungsthemen. Im Interview spricht er über Tradition, queere Anknüpfungspunkte und Kritik an Bibelstellen.
Frage: Herr Krebs, soweit wir wissen, wurde die Bibel von heterosexuellen cis Männern für Menschen in einem extrem patriarchalen System geschrieben. Warum dann queere Exegese?
Krebs: Wir leben heute in einer Zeit gesellschaftlichen Wandels. Menschen leben in verschieden- wie gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Manche entdecken, dass die Begriffe "Mann" und "Frau" auf sie nicht passen und bezeichnen sich als nicht-binär. Es gibt Menschen mit Körpern, die weibliche und männliche Geschlechtsmerkmale vereinen, und die sich gegen den Druck wehren, daran medizinisch etwas zu ändern. Ebenso gibt es Leute, die medizinische Hilfe in Anspruch nehmen, weil ihr Geschlecht mit ihrem Körper nicht übereinstimmt. Ich sehe diesen Wandel, das gesteigerte Bewusstsein für unterschiedliche Identitäten und Bedürfnisse, als Fortschritt – auch aus christlicher Sicht. Die Mitte der Schrift ist das Gebot zur Fremden- und Nächstenliebe, im Alten wie im Neuen Testament. Aber natürlich fordert uns dieser Wandel auch heraus: Was machen wir vor diesem Hintergrund mit unserer biblischen Tradition, die ja tatsächlich sehr heteronormativ und patriarchal geprägt ist?
Frage: Welche Perspektiven fügt eine queere Sicht der Exegese hinzu?
Krebs: Einerseits müssen wir lernen, biblische Texte kritisch zu lesen, also sensibel dafür zu sein, dass sie ganz oft die Perspektive von Männern einnehmen, die über andere Männer, Frauen, Kinder, Menschen anderer Geschlechter sowie Sklav*innen herrschen. Diese Perspektive sollten wir nicht einfach unkritisch übernehmen. Wir sollten auch den Mut haben zu sagen, dass es biblische Texte gibt, die wir heute eigentlich ablehnen und zurückweisen müssen. Die Geschichte von Sodom ist dafür ein Beispiel. Die wird oft dazu verwendet, um Homosexualität zu verurteilen. Dabei geht es darum, dass die Bewohner von Sodom die Gäste von Lot, die als Männer gelesen werden, aber eigentlich Engel sind, vergewaltigen wollen. Lot weiß das zu verhindern, indem er seine eigenen Töchter zur Vergewaltigung anbietet (Gen 19,8). Wie konnte man einen solchen Text dazu heranziehen, um zu sagen, dass einvernehmliche Homosexualität eine Sünde sei? Darum geht es in diesem Text offensichtlich nicht. Und wichtiger noch: Wie konnte man sich überhaupt ohne Distanzierung auf diese schreckliche Geschichte beziehen, bei der einem eigentlich das Blut in den Adern gefrieren müsste? Die feministische Bibelwissenschaftlerin Phylis Trible hat solche Texte "Texte des Terrors" genannt – und so dürfen und sollten wir heute darauf blicken.
Frage: Es geht also um eine Neubewertung.
Krebs: Ja. Aber der Vorgang, dass alte Texte neu bewertet werden, ist als solcher eben gar nicht neu. Schon in der Bibel selbst reagieren Texte aufeinander, widersprechen sich, rücken etwas gerade, setzen einen Kontrapunkt. Luther vertrat den Grundsatz: "Die Schrift erklärt sich selbst." Damit meinte er, dass die Bibel aus sich heraus verständlich sei. Die Amsterdamer Schule führte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert diesen Grundsatz weiter, indem sie formulierte: "Die Bibel kritisiert sich selbst." Wenn wir heute gendersensibel die Bibel lesen und da auch zu kritischen Haltungen kommen, tun wir das nicht mit einem Maßstab, der der Bibel extern wäre, sondern wir tun das letztlich vor dem Hintergrund des Liebesgebotes, das wir der Bibel selbst verdanken. Es geht nicht darum, aus der biblischen Tradition herauszutreten, sondern sie weiterzuführen. Dabei hilft, dass biblische Texte stark vom Hetero-Patriarchat geprägt, aber nicht immer vollständig davon bestimmt sind. Wer genau liest, entdeckt auch Stimmen, die in eine andere Richtung weisen. Eine Pointe biblischer Texte liegt zudem ganz oft auch in ihrer Mehrdeutigkeit, in ihrer Bedeutungsoffenheit. In dieser Bedeutungsoffenheit können auch queere Perspektiven einen Resonanzraum finden.
Frage: Haben Sie ein Beispiel?
Krebs: Ein Beispiel dafür ist die Auslegung des biblischen Verses, der oft für den klassischen Geschlechterdualismus in Anspruch genommen wird, nämlich Genesis 1, 27. Früher übertrug man: "Gott erschuf die Menschen als Mann und Frau." In der neuen Einheitsübersetzung heißt es exakter: "Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie." Die Wörter "männlich" und "weiblich" kann man – wie die zugrundeliegenden hebräischen Wörter – für Menschen und Tiere verwenden. Es geht also gerade nicht um die sozialen Rollen von "Mann" und "Frau", sondern um eine ganz körperliche Realität, die wir mit Tieren teilen. Und natürlich wussten Menschen schon damals, dass es Menschen und Tiere gibt, deren Körper "uneindeutige" Geschlechtsmerkmale haben. Von daher spricht einiges dafür, zu sagen, dass "männlich und weiblich" als ein sogenannter Merismus zu verstehen ist – als eine sprachliche Figur, die in der Bibel häufig vorkommt und die auf zwei Pole eines Spektrums verweist. In diesem Spektrum gibt es zwischen und jenseits von "männlich und weiblich" weitere Möglichkeiten. Die Schöpfungsgeschichte spricht ja auch von Tag und Nacht, aber niemand leugnet, dass es so etwas wie eine Dämmerung gibt.
Frage: Allein, dass wir jetzt über so einen abstrakten Vers sprechen, zeigt ja auch: Wenn es um queere Lebensentwürfe und Selbstbilder geht, ist die Materiallage extrem dünn.
Krebs: Die Materiallage ist auch extrem dünn, wenn es um heterosexuelle Lebensentwürfe und Selbstbilder geht, wie wir sie heute kennen. Im Alten Testament ist Polygamie selbstverständlich, und auch in neutestamentlicher Zeit war die Ehe keineswegs eine konsensuelle Gemeinschaft zweier gleichberechtigter Personen. Die biblischen Texte entstammen einer ganz anderen Welt! Trotzdem haben sie uns – wenn man zum Beispiel einmal sehr genau auf einen Vers wie Genesis 1,27 schaut – mitunter Überraschendes zu sagen. Einiges kann man da auch von der jüdischen Schriftauslegung lernen. So nahmen manche Rabbinen Genesis 1,27 tatsächlich zum Anlass, über weitere Geschlechter "zwischen" männlich und weiblich nachzudenken, etwa über "Androgyne" oder als "Tumtum" bezeichnete Menschen mit unsichtbaren oder unentwickelten Geschlechtsorganen. Andere spekulierten darüber, dass der erste von Gott geschaffene Mensch als solcher "männlich und weiblich", also "androgyn" gewesen sei und die Trennung in zwei Geschlechter erst später stattgefunden habe, als Gott die Frau aus der Seite des ersten Menschen nahm. Daraus wiederum folgerten bestimmte Traditionen – die über das Judentum hinaus etwa auch im christlichen Pietismus wirksam waren –, dass die erlöste Menschheit wieder "androgyn" sein müsse. An solchen Beispielen sieht man: Wir stecken heute oft in Deutungstraditionen fest, die biblische Texte noch hetero-patriarchaler machen, als sie es aus sich heraus sind oder sein müssen. Es kann ein Gewinn von Exegese sein, zu entdecken, dass es schon in der Bibel selbst und in der Geschichte ihrer Auslegung gegenläufige Tendenzen gibt, die wir heute fruchtbar machen können.
Frage: Wie kann das aussehen? Queere Vorbilder in der Bibel sind rar. Da gibt es zum Beispiel David und Jonatan, die eine sehr enge Beziehung haben. "Jonatan liebte David wie sein eigenes Leben", heißt es etwa (1 Sam 18,1). Interpretiert die queere Exegese da dann nicht etwas viel hinein?
Krebs: Naja, eigentlich muss man sagen, dass die Standard-Exegese da lange Zeit etwas fortinterpretiert hat. Wenn man in die älteren Kommentare hineinschaut, sieht man, dass die erotische Dimension dieser Beziehung oft systematisch geleugnet wird und man dafür etwa ihren politischen Charakter in den Vordergrund stellt. Heteronormative Lesarten konnten tausend Gründe an den Haaren herbeiziehen, um zu behaupten, dass diese Beziehung nichts, aber auch gar nichts mit Erotik zu tun habe. Heute gibt es demgegenüber einen breiten Konsens, dass die Sprache, in der von David und Jonathan erzählt wird, sehr wohl erotisch ist – was ja überhaupt nicht im Widerspruch dazu steht, dass die Geschichte gleichzeitig politische Aspekte hat. Aber natürlich muss gesagt werden, dass sich die Beziehung zwischen David und Jonatan stark davon unterscheidet, wie heute gleichgeschlechtliche Beziehungen gelebt werden. Ist es aber nicht trotzdem legitim, heutige Erfahrungen von homosexuellen Partnerschaften damit zu verbinden? So bringen wir biblische Geschichten mit unserer heutigen Lebenswirklichkeit ins Gespräch, betreiben also eine lebendige Auslegung der Schrift. Alles andere würde die Bibel als alten Text ins Museum verbannen. Sich als Gläubige hingegen in einem andauernden Narrativ zu sehen, das schließt ein, dass man die alten Texte auch in neuen Kontexten sprechen lässt; das findet schon innerhalb der Bibel statt, und das hat auch in der nachbiblischen Tradition immer stattgefunden. Man kann dies auf transparente und redliche Weise tun, indem man die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen früheren und heutigen Lebenswelten gleichermaßen im Blick behält.
Frage: Auf der anderen Seite gibt es durchaus schon in der Bibel eine dezidiert homofeindliche Schriftauslegung, wenn etwa der Apostel Paulus die Levitikus-Stelle: "Du darfst nicht mit einem Mann schlafen, wie man mit einer Frau schläft; das wäre ein Gräuel" (Lev 18,22) gegen Homosexualität auffährt.
Krebs: Ich halte nichts davon, homofeindliche Aussagen der Bibel kleinzureden. Wie ich am Beispiel der Sodom-Geschichte schon ausgeführt habe, können und müssen wir uns auf solche Texte kritisch beziehen. Grundsätzlich gilt, dass bei Aussagen wie der, die Sie erwähnen, einvernehmliche Homosexualität nicht im Blick ist. Damals deutete man Sexualität fast immer im Kontext von Macht-Asymmetrien. Das gilt übrigens für hetero- und homosexuelle Sexualität gleichermaßen. So dachte man in der Antike eben, auch Paulus tut das.
Frage: Das sind nun alles sehr grundlegende Überlegungen der queeren Exegese. Welche Themen werden in diesem Bereich momentan diskutiert?
Krebs: Lange Zeit war queere Theologie eine sehr westliche und weiße Angelegenheit. Allerdings hat die Queer-Theologin Marcella Althaus-Reid dem schon relativ früh eine lateinamerikanische, kolonialismuskritische Perspektive entgegengesetzt. Inzwischen ist ein breiter und lebendiger Diskurs darüber entstanden, wie verschiedene Formen der Diskriminierung – Homophobie, Transphobie, Sexismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus – ineinandergreifen. Darüber hinaus gibt es interessante Diskussionenen über die Erfahrungen von trans* Personen. Im Galaterbrief schreibt Paulus: "Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus." (Gal 3,28) Das "männlich und weiblich", von dem im ersten Schöpfungsbericht die Rede ist, wird hier negiert und überboten! Die Theologin Elizabeth Stuart nimmt deshalb an, dass die vollendete Menschheit geschlechtslos sein werde. Christ*innen seien verpflichtet, Geschlecht als etwas anzusehen, das im Letzten keine Bedeutung habe. Nun ist aber für viele trans* Personen Geschlecht überhaupt nicht bedeutungslos; sie leiden im Gegenteil darunter, wenn sie einem Geschlecht zugeordnet werden, das nicht ihr wahres Geschlecht ist. Elizabeth Stuart sagt dazu: Trans* Personen müssen sich trotzdem, wenn sie Christ*innen sein wollen, auf eine Relativierung ihrer Geschlechtsidentität einlassen. Ist das aber nicht arrogant, sich über eine existenzielle Erfahrung bestimmter Menschen so hinwegzusetzen? Wesentlich sympathischer ist mir ein Gedanke von Ruth Heß: Sie bezieht sich auf eine andere Stelle bei Paulus, wo er davon spricht, dass wir bei der Auferweckung einen Leib von je eigener Art geschenkt bekommen (1Kor 15,39–42). Ruth Heß meint, dass dies auch für unsere Geschlechter gelten könnte; wir würden demnach in eine Leiblichkeit auferstehen, die uns auch als Geschlechtswesen ganz in unserer jeweiligen Individualität zur Erscheinung bringen würde – mehr, als das in dieser Welt möglich ist. Kein eschatologischer Einheitsbrei also wie bei Stuart, sondern ein genuin pluralistisches Hoffnungsbild! Und eine interessante Debatte – die durchaus auch Diskussionen in der Gesamtgesellschaft widerspiegelt.