Jesus und die jüdischen Feste seiner Zeit
Welche Feste Jesus gefeiert hat und wie er das getan hat, wissen wir eigentlich nicht. Die Hinweise dazu in den Evangelien sind rar. Lukas und Johannes gehen von regelmäßiger Teilnahme an Pilgerwallfahrten nach Jerusalem aus (Lk 2,41; Joh 5,1; 7,10). Lukas hält fest, dass dies jährlich geschah, "wie es dem Festbrauch entsprach" (Lk 2,42). Über konkrete Festtraditionen erfahren wir in den neutestamentlichen Texten nichts. Es gibt, anders als etwa in den Qumranschriften, auch keine Diskussionen über Kalenderfragen, Festtraditionen oder spezifische Aufgaben, die bestimmte Personen im liturgischen Jahr zu übernehmen hätten. So kann man nur davon ausgehen, dass sich Jesus an den üblichen jüdischen Festtraditionen seiner Zeit beteiligt hat.
Theologisch besonders bedeutsam ist sicher der Versöhnungstag (Jom Kippur). Namentlich genannt werden im Neuen Testament außer dem Pessachfest, das den Hintergrund der Passionserzählung bildet, auch das Pfingst- oder Wochenfest (Schawuot – Apg 2,1; 20,16), das Laubhüttenfest (Sukkot – Joh 7,2) und das Tempelweihfest (Chanukka – Joh 10,22). Von nichtjüdischen Festen oder Ritualen, die es in der Zeit der Römerherrschaft sicher auch gegeben hat, hören wir nichts.
Vorsicht! Der historische Graben
Bei einer Rekonstruktion der jüdischen Feste zur Zeit Jesu drohen allerdings üble Klischees. Die Frage, wie "man" in Galiläa im 1. Jhd.z.B. Sukkot gefeiert habe, ist so schwierig zu beantworten wie die Frage, wie "man" in Hessen im 20. Jhd. Pfingsten feierte. Und die wenigen Quellentexte, die wir haben, sind oft eher normative Texte aus einer gesellschaftlichen Oberschicht, die vorschreiben, wie Feste gefeiert werden sollten und keine Erfahrungsberichte. Ein liturgisches Buch der katholischen Kirche bildet ja auch nur in sehr begrenztem Maße ab, wie "man" z. B. Weihnachten "wirklich" feiert. Die Rekonstruktion jüdischer Feste der Jesuszeit muss also mit großer Vorsicht vorgenommen und darf nicht mit heutigen Feierformen vermengt werden. Von einem Sederabend in orthodoxer Tradition, der von heutigen Juden und Jüdinnen gefeiert wird, ist der "historische Jesus" mindestens so weit entfernt wie von einem Thesenanschlag an eine Schlosskirchentür.
Wenn Jesus in die jüdischen Festtraditionen seiner Zeit eingebunden war, prägten besonders die drei großen Wallfahrtsfeste Pessach, Schawuot und Sukkot den Jahreskreis (vgl. Dtn 16,16; vgl. Ex 23,17). Das Ziel dieser Wallfahrten, die sich in der Zeit der Hasmonäer etabliert hatten und erst unter den Römern auch für Menschen jüdischen Glaubens in der Diaspora Bedeutung erlangten, ist der Jerusalemer Tempel. Dass es zu diesen Festen in Jerusalem wirklich sehr voll wurde, setzt Apg 2 voraus, wo eine ganze Liste der in den verschiedenen Gebieten der jüdischen Diaspora lebenden Anwesenden geboten wird. Flavius Josephus beschreibt mehrfach, dass die Menschenmassen, die sich zu den Festen in Jerusalem aufhielten, von den Römern als Gefährdung wahrgenommen wurden und es immer wieder zu Tumulten und Aufruhr gekommen sei (vgl. z. B. Bellum Judaicum II,10f). Und in der Mischna (mAv 5,5) wird als eines von zehn Wundern erwähnt, dass einmal zu einer Festzeit in Jerusalem alle Menschen einen Ort zum Schlafen fanden.
Feste als Symbole im Jahreslauf
Allen drei Wallfahrtsfesten gemein ist ein agrarischer Ursprung. Die landwirtschaftliche Arbeit im Jahreskreis ermöglicht Nahrung, Leben und Wohlergehen. Theologisch wird diese Erfahrung mit der Erinnerung an Gottes rettendes Handeln, das Israel beim Auszug aus Ägypten erlebt hat, in einen Zusammenhang gebracht. Gott ist derjenige, der Freiheit ermöglicht und die Grundlagen für gelingendes Leben garantiert. Sonne und Regen, Aussaat und Ernte, Regelungen für das zwischenmenschliche Zusammenleben, wie sie in der Tora festgehalten sind, Erfahrungen der Rettung und des Schutzes, Versöhnung und Heil finden in den Festen einen ritualisierten Ausdruck. Israel vergewissert sich mit diesen Festen seiner eigenen Herkunft und Identität und vergegenwärtigt die Freiheit, die von Gott geschenkt und durch seine Herrschaft ermöglicht wird.
Diesen Grundgedanken, der in den Festen seiner Zeit symbolisch zum Ausdruck gebracht wird, macht Jesus zu seinem Programm, wenn er die Botschaft von der Gottesherrschaft ins Zentrum seiner Verkündigung stellt. Die Feste bilden als rituelle Verdichtungen der Grundüberzeugungen Israels den Rahmen, in dem Jesus lebt und wirkt.
Bezüge zu jüdischen Festen in den Evangelien
Die Evangelien nehmen den Ball auf und intensivieren in ihren Texten Bezüge zu jüdischen Festen ihrer Zeit. Im Johannesevangelium geschieht dies programmatisch (s. den Beitrag von Dorit Felsch). Die synoptischen Evangelien sind dagegen zurückhaltender. Aber auch hier bilden die jüdischen Feste den Rahmen für die Erzählungen. Da Anspielungen und Motivaufnahmen für die Adressatinnen und Adressaten plausibel sein müssen, ist mit Stilisierungen zu rechnen.
Ganz grundlegend ist der Weg Jesu von Galiläa nach Jerusalem, der in allen drei Evangelien im Zentrum der Erzählung steht, der übliche Wallfahrtsweg, den galiläische Männer im Idealfall dreimal im Jahr zurücklegen sollten. Der Rahmen der Erzählungen einschließlich der nicht thematisierten Logistik (Übernachtungsmöglichkeiten, Nahrungsbeschaffung, Orientierung auf der Reiseroute usw.) ist die durch die Wallfahrten bekannt.
Pessach und Passion
Das Pessachfest, in dessen Kontext die Passion Jesu erzählt wird, ist natürlich der hervorstechendste Bezugspunkt auf die Feste. Die synoptischen Evangelien und das Johannesevangelium bieten dabei eine leicht abweichende Chronologie. Während bei Markus, Matthäus und Lukas das letzte Mahl Jesu und seiner Jünger ein Pessachmahl ist (vgl. Lk 22,15), erzählt das Johannesevangelium, dass die Kreuzigung Jesu noch vor dem Fest, zu der Zeit, zu der im Jerusalemer Tempel die Pessachlämmer geschlachtet wurden, stattgefunden habe. Dabei geht es keineswegs um irgendwelche platten Identifikationen, mit denen Jesus in überbietender Weise als "wahres Pessachlamm" oder das Abendmahl als "wahres Pessachmahl" dargestellt werden sollen. Es geht um eine Einordung des Geschehens in das Heil, das Gott an Israel wirkt und das an den Festen seinen Ausdruck findet. Die Evangelien integrieren das Leiden und Sterben Jesu in den kulturellen Rahmen jüdischer Festkultur. Die Passion gehört in die Geschichte Gottes mit Israel und in den Kontext einer Hoffnung auf Erlösung hinein. Leiden und Sterben Jesu werden interpretiert auf der Basis der Menschenfreundlichkeit Gottes, der sein Volk auch in den dunkelsten Stunden nicht verlässt.
Nimmt man wahr, dass die jüdischen Feste den oft gar nicht entfalteten Hintergrund der Jesuserzählungen bilden, lassen sich weitere spannende Entdeckungen machen. Am Ende des letzten Mahls berichtet Matthäus etwa lapidar: "Nach dem Lobgesang gingen sie zum Ölberg hinaus" (Mt 26,30), womit wohl das große Hallel, also die Psalmen 113–118, gemeint ist. Diese Psalmen gehörten wohl schon im 1. Jh. zum Ablauf der Feier, u.a. ist über deren genaue Rezitation am Ende des Pessachmahles ein Streit zwischen Hillel und Schammai überliefert (bPes 116b). Dann wäre Psalm 118 die "Melodie im Ohr", mit der die folgenden Szenen gelesen werden. Dass dieser Psalm in der christlichen Liturgie der Osterwoche heute eine herausragende Rolle spielt, ist eine durchaus organische Fortführung dieser Theologie. Nur sollte eben nicht vergessen werden, dass diese im Kontext jüdischer Feste ihre Plausibilität gewonnen hat.
Psalm 118 wird im Matthäusevangelium auch beim Einzug Jesu nach Jerusalem zitiert (Mt 21,9). Hier tun die Volksmengen genau das, was sie nach Ps 118 tun sollen, wenn am Sukkotfest der Einzug nach Jerusalem ansteht: "Mit Zweigen in den Händen / schließt euch zusammen zum Reigen, bis zu den Hörnern des Altars!" (Ps 118,27). Die Einzugserzählung wird mit Motiven, die in den Kontext des Laubhüttenfestes gehören, untermalt. Mit diesen Motiven wird eine theologische Tiefendimension eingespielt, die sich denjenigen erschließt, die mit der Sinnstiftung, die sich in den Festen ereignet, vertraut sind.
Dass dabei Sukkot das jahreszeitlich falsche Fest (im Herbst) ist, da der Einzug Jesu nach Jerusalem ja eigentlich in den Rahmen des Pessachfestes (im Frühling) gehört, vertieft dabei die theologischen Zusammenhänge eher. So ein jahreszeitliches Crossover begegnet z.B. auch in der Leseordnung der evangelischen Kirche, wo der Einzug in Jerusalem (Mt 21,1–11) das Evangelium für den ersten Advent ist.
Heilshoffnung mithilfe der Feste erzählt
Die Feste Israels bilden in den Evangelien das Hintergrundrauschen, vor dem die Heilshoffnungen, die sich mit Jesus verbinden, erzählt werden. Eine Überbietung jüdischer Feste, eine Ablösung oder gar eine Veränderung von einem jüdischen zu einem christlichen Festkalender ist im Neuen Testament an keiner Stelle im Blick. Die Hoffnungen Israels, die alljährlich gefeiert und vergegenwärtigt werden, stellen die Parameter bereit, in denen die ersten Christen ihre Erfahrungen mit Jesus und mit seinem Sterben zu reflektieren und zu formulieren suchten.
Der Autor
Olaf Rölver lehrt Neues Testament am Institut für Katholische Theologie der Universität zu Köln.
Dieser Artikel erschien zuerst in der "Bibel heute". Die Zeitschrift ist eine Mitgliederzeitschrift des Katholischen Bibelwerks und vermittelt die Bibel in aktueller und fundierter Weise einem breiten, auch nicht-wissenschaftlichen Publikum.