Caritas-Direktorin Kostka: Caritas ist ein Stück gelebtes Evangelium
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"Caritas" bedeutet "Nächstenliebe" – wie wird die im Jahr 2023 gelebt? Ulrike Kostka ist Direktorin des Caritasverbandes im Erzbistum Berlin und Moraltheologin an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Im Interview spricht sie für Caritas als Form des Kircheseins, die Rolle des Staats und aktuelle Problemlagen.
Frage: Wir haben gerade das Osterfest gefeiert. Geben Ihnen diese Anlässe im Kirchenjahr Schwung für Ihre Arbeit?
Kostka: Auf jeden Fall. Gerade auch, dass es Kar- und Ostertage sind, das heißt Leiden, Tod und Auferstehung, das ist für mich eine Kraftquelle für meinen eigenen Glauben. Diese Erfahrung machen auch viele Menschen, für die wir da sind, dass sie wirklich auch verzweifelt sind, weil sie zum Beispiel überschuldet sind oder keine Wohnung finden oder in einer tiefen psychischen Krise stecken. Wenn wir sie dann unterstützen und begleiten können und ihnen helfen, ihren eigenen Weg wieder zu finden, dann ist das ganz oft eine Auferstehung.
Das erlebe ich in meinem Alltag in unseren Beratungsdiensten wirklich immer wieder. Ostern findet auch in meinem Arbeitsalltag statt. Dann ist es gut, noch mal diesen tiefen Sinn von Ostern zu erleben.
Außerdem ist Ostern auch eine Atempause, ich gebe es ganz ehrlich zu, es tut auch einfach gut, ein paar freie Tage zu haben. Das kommt noch dazu.
Frage: Wenn man nach christlichen Werten und menschlich handelt, an seine Mitmenschen denkt, sieht man auch Leid und ist sensibel für ungerechte und schwierige Lebensumstände um einen herum. Viele setzen sich aus solchen Gründen ehrenamtlich oder auch hauptamtlich für ärmere Menschen ein. Sie machen das aber nicht nur offensichtlich aus einer Verantwortung heraus, sondern auch beruflich. Ehrenamtlich könnte man vielleicht irgendwann noch sagen, "Okay, ich kann das nicht mehr" oder "Mir reicht die Kraft nicht mehr". Was gibt Ihnen persönlich Kraft, sich dafür einzusetzen und sich mit diesen schwierigen, teils auch aussichtslos scheinenden Themen auseinanderzusetzen?
Kostka: Einmal die Erfahrung, dass wir wirklich immer wieder was bewegen können. Das ist, glaube ich, ganz toll. Und dann einfach meine unheimlich tollen Kolleginnen und Kollegen, viele Ehrenamtliche, aber auch viele Hauptamtliche. Wir sind eine tolle Caritas-Mannschaft und wir sind ein toller Ort von Kirche. Das macht mir Freude.
Und dann sicherlich auch noch einfach mein persönlicher Glaube. Und ich habe einfach auch Spaß, zu leiten. Ich bin, glaube ich, an der richtigen Stelle und das bringt es zusammen. Natürlich unterstützen mich da auch meine Familie und Freunde sehr. Die Caritas nimmt bei mir einen ganz schön großen Raum ein.
Frage: Sie haben von den vielen Formen von Ungerechtigkeit und Armut gesprochen – gefühlt wird es in unserer Gesellschaft immer mehr. Was lässt Sie selbst manchmal an den Punkt kommen, Zweifel zu kriegen und hinschmeißen zu wollen? Was ist schwierig?
Kostka: Ich würde eigentlich eher sagen, dass die innerkirchliche Situation herausfordernd ist, weil ich da auch manchmal Zweifel bekomme, inwieweit sich unsere Kirche weiterentwickeln wird und reformfähig ist. Manche Hindernisse, die wir erleben als Caritas, sind schon auch zumindest schwierig. Das bringt mich jetzt nicht so weit, aufzuhören, aber es ist eine Herausforderung.
Es gibt natürlich auch Situationen, in denen wir merken, dass wir an die Grenze stoßen, wo wir einfach die Welt nicht verändern können mit anderen zusammen. Das macht mich zumindest sehr nachdenklich. Ich habe aber ehrlich gesagt nie das Gefühl gehabt, jetzt ist es genug, sondern die Arbeit ist meine Berufung und macht mir unendlich viel Freude.
Frage: Ist nicht eigentlich der Sozialstaat dafür verantwortlich, das menschliche Leid in unserer Gesellschaft aufzufangen? Warum braucht es die Caritas?
Kostka: Absolut richtig. Als erstes sind wir als Gesellschaft verantwortlich, Armut und Ungerechtigkeit zu bekämpfen und für Gerechtigkeit zu sorgen. Das ist total wichtig. Natürlich der Staat, aber auch wir alle zusammen. Das ist, glaube ich, der erste Schritt. Gleichzeitig ist es aber auch wichtig, dass immer wieder auf Armutslücken hingewiesen wird. Ich nehme mal eine Gruppe, die eigentlich kaum jemand im Fokus hat: Kinder und Jugendliche, die in der stationären Kinder- und Jugendhilfe, also in Kinderheimen, leben. Sie haben oft schon sehr schwierige Erfahrungen in ihren Familien gemacht, sonst würden sie nicht in der Kinder- und Jugendhilfe landen. Und sie sind oft doppelt und dreifach benachteiligt und haben keine Lobby.
Für diese Kinder und Jugendlichen einzutreten, dass sie bessere Bildungschancen bekommen und dass sie nicht jeden Pfennig umdrehen müssen und sich immer hinten anstellen müssen, das ist zum Beispiel etwas, wo ich sage, dass es unendlich wichtig ist, dass wir als Caritas darauf aufmerksam machen. Und natürlich ist es auch ein christlicher Auftrag, den wir haben, als Kirche und als Christinnen und Christen, uns für Gerechtigkeit einzusetzen. Insofern finde ich: kein Christentum ohne Caritas.
Frage: Caritas bedeutet aus dem Lateinischen ja übersetzt "Nächstenliebe", die Sie da leben. Und Sie haben gesprochen von einem Ort, wo Sie Kirche leben, wo Sie Ihren Glauben leben, wo Sie mit Ihrem Team zusammen in der Caritas Kirche sind. Das ist eines der Argumente, das Menschen anbringen, für welche guten Dinge sich die Kirche engagiert, oder?
Kostka: Ganz genau. Es gibt einmal die verbandliche Caritas, aber es gibt auch karitative Initiativen, die in Gemeinden und in anderen Verbänden gestaltet werden. Auch privat gibt es viele, die sich aus dem christlichen Geist engagieren oder auch einfach dabei mitwirken. Wir haben ja auch viele Nichtchristen, die bei uns arbeiten und mitmachen. Das ist einfach eine ganz große Stärke. Wer Kirche nur auf Gottesdienst und Verkündigung im klassischen Sinne reduziert, der lebt nicht das richtige Christentum. Deswegen, glaube ich, sollte auch die Kirche die Caritas noch viel mehr in den Mittelpunkt ihres Handelns stellen und auch besser unterstützen.
Frage: Sie haben davon gesprochen, dass die innerkirchlichen Geschehnisse in unserer Zeit Sie aber trotzdem manchmal zweifeln lassen oder demotivieren. Wie fangen Sie sich da auf oder wie geben Sie den Schwung dann auch weiter an Ihre Mitarbeitenden?
Kostka: Das eine ist, dass ich mich auch kirchenpolitisch mit der Caritas zusammen engagiere. Wir versuchen, Dinge auf den Tisch zu bringen und Dinge zu benennen und uns einzusetzen. Ich nenne mal ein Beispiel: Wir haben als Caritas im Erzbistum Berlin, als aus Rom das Verbot der Segnungsgottesdienste gekommen ist, erst mal die ganze Caritas mit Regenbogenflaggen beflaggt und ein klares Statement gemacht für Vielfalt und dass jeder Mensch gesegnet ist oder Segen empfangen kann. Das hat natürlich auch einige bewegt – in jede Richtung, aber das sind klare Zeichen und das ist uns auch wichtig.
Das andere ist, dass wir versuchen, deutlich Stellung zu beziehen und uns auch in Reformprozesse einzubringen. Auf der anderen Seite ist es natürlich auch so, dass wir manchmal wirklich verzweifeln, dass sich bestimmte Sachen nicht bewegen, wobei ich unser Bistum zum Beispiel da auch als durchaus engagiert erlebe. Aber auch da ist noch Luft nach oben, mehr Transparenz und mehr Mitwirkung zu erreichen und gerade bei Entscheidungen noch mal zu schauen, wie eine größere Partizipation entstehen kann.
„Wer Kirche nur auf Gottesdienst und Verkündigung im klassischen Sinne reduziert, der lebt nicht das richtige Christentum.“
Frage: Sie haben bei der Caritas eine Kampagne für dieses Jahr: "Für Klimaschutz, der allen nutzt". Was hat der Klimaschutz mit unserem Sozialleben, unserer karitativen Ader oder Arbeit zu tun?
Kostka: Ja, man würde vielleicht denken: Caritas und Klimaschutz – ist das jetzt nur ein Modetrend? Nein, im Gegenteil. Es ist einfach so, dass Menschen mit geringen Einkommen oder auch mit anderen existenziellen Nöten, die zum Beispiel keine Wohnung haben, besonders von den Klimafolgen betroffen sind. Das ist wichtig: Diejenigen, die wenig Einkommen haben, sind meistens diejenigen, die am wenigsten CO2 produzieren.
Ein ganz konkretes, praktisches Beispiel: Menschen mit geringen Einkommen leben öfter in schlecht isolierten Wohnungen und haben höhere Energiekosten. Oder zum Beispiel obdachlose Menschen: Wenn es total kalt ist oder total heiß, dann sind sie schlecht geschützt. Wir versuchen als Caritas in Deutschland, aber auch weltweit, uns dafür einzusetzen, dass Sozialpolitik und Klimapolitik zusammengedacht werden. Das ist ganz wichtig und es gilt auch aufzudecken, dass zum Beispiel ganz viele, die flüchten müssen, auch aus Klimaschutzgründen flüchten müssen, weil man in ihren Heimatländern nicht mehr leben kann. Also, diese Zusammenhänge sind auch deutlich zu machen.
Frage: Die Obdachlosigkeit oder Wohnungslosigkeit ist eines der naheliegendsten Themen, bei denen man sofort an die Caritas denkt. Jetzt gibt es seit 30 Jahren die Wärmestube in Berlin. Sie setzen sich besonders für diese Menschen, oder da, wo man Armut und Elend sieht, ein. Der Winter ist sehr lang; es gab viele Zukunftsängste, was die Energieversorgung angeht. Ist es nicht so, dass Sie mit Menschen zu tun haben und Menschen zur Caritas kommen, die genau diese Sorgen mitbringen – und man kann sie nicht so richtig trösten?
Kostka: Gerade in der Wärmestube erleben wir eigentlich immer wie so ein Seismograf jedes Jahr die Themen, die die Menschen bewegen. Manche kommen auch jedes Jahr. Es gibt aber auch viele, die neue Gäste sind. Das sind klassische Armutsthemen, also dass zum Beispiel Mitte des Monats das Geld nicht mehr reicht. Jetzt ist es natürlich noch mal die steigende Inflation, die die Menschen extrem finanziell belastet. Bei den Energiekosten gab es viele Ängste. Da ist es zum Teil durch die Maßnahmen der Bundesregierung etwas gepuffert, aber trotzdem haben die Menschen Zukunftsängste.
Was wir aber auch spüren, ist, dass zunehmend ältere Menschen zu uns kommen. Das heißt, viele ältere Menschen sind auch von Armut betroffen. Und das Thema Einsamkeit: Viele brauchen teilweise über eine Stunde, sie nehmen lange Wege auf sich, einfach um Gemeinschaft zu erleben. Die haben auch eine Wohnung, die sind vielleicht so am Rand des Existenzminimums und freuen sich auch über ein kostenloses Essen, aber es geht vor allen Dingen um Begegnung und darum, einfach Aufmerksamkeit zu bekommen.
Das ist wirklich auch toll, dort selber Gast zu sein. Ich bin ab und zu in der Wärmestube und führe da jedes Mal hochspannende Gespräche. Was ich auch toll finde, ist, dass sich die Gäste auch untereinander helfen. Viele von denen kennen sich bestens in Berlin aus und wissen, wo man auch Unterstützung bekommen kann und geben sich gegenseitig Tipps. Das ist zum Beispiel auch eine tolle Sache!
Frage: Die Unterstützung vom Staat gibt es ja für eine überschaubare Zeit – eine Unterstützung, die das Problem aber nicht löst. 2024 laufen Gaspreisbremse und Strompreisbremse aus. Die Zukunftsängste aber bleiben …
Kostka: Ja, die bleiben. Wobei wir gerade merken, dass der Faktor Inflation die Leute fast noch mehr bewegt – und die steigenden Mieten. Bei dieser Sorge mit den Energiepreisen kann zur Zeit keiner so ganz genau sagen, wie die dieses Jahr aussehen werden. Die Angst ist da, aber anders als noch vor drei Monaten ist das Thema ein bisschen zurückgerückt. Wir fragen uns natürlich auch, wie das im nächsten Jahr aussehen wird.
Gerade diese Inflation macht die Leute aber wirklich fertig, weil sie jeden Tag beim Einkaufengehen merken, dass ihr Geld eigentlich weniger reicht. Das betrifft nicht nur die Ärmsten, sondern das betrifft auch Familien mit einem kleinen mittleren Einkommen. Dann gibt es natürlich einen weiteren Aspekt, der die Leute bewegt: Wir sind alle dafür, dass eine Wärmewende eintritt und dass die Gebäude saniert werden und dass man Heizungen verändert. Sie können sich aber vorstellen, dass gerade Menschen mit mittleren und kleinen Einkommen immer wieder überlegen, was das für ihre Miete heißt. Das ist so ein Thema, bei dem es eine Ratlosigkeit gibt, die wir auch spüren, die wir aber auch selber erleben.
Frage: Das sind Themen, mit denen Sie sich tagtäglich beschäftigen, die einen immer wieder mal zweifeln lassen, wenn was Neues dazukommt. Was gibt Ihnen bei all dem Hoffnung?
Kostka: Mir gibt Hoffnung, dass wir immer wieder zu Lösungen beitragen können, also dass sich auch Dinge nachhaltig verändern können. Wir sehen, dass unsere Arbeit wirkt. Wenn zum Beispiel aus einem Kind in der stationären Kinder- und Jugendhilfe dann jemand wird, der aufblüht und vielleicht sogar später wieder Erzieher wird oder Sozialpädagogin und sich für diese Themen engagiert, das ist doch einfach nur toll. Oder wenn Menschen bei uns ein gutes Lebensende finden in den Hospizen oder gut begleitet werden können.
Ich habe das Gefühl, dass wir wirklich immer wieder erleben können, dass unsere Arbeit wirkt. Deswegen ist für mich Caritas auch einer der faszinierendsten Orte in der Kirche und ich lade ganz viele ein, sich dort zu engagieren und sich einzubringen, ob nun beruflich, ehrenamtlich oder durch Unterstützung durch Zeit, Sach- oder Geldspenden. Das ist, glaube ich, einfach eine gute Arbeit, die wir machen. Natürlich klappt auch mal etwas nicht. Wir sind auch offen für Kritik. Aber ich glaube, das ist auch etwas, das etwas ausdrückt: Für mich ist Caritas ein Stück gelebtes Evangelium.