Theologin: Staat soll in der Not helfen – nicht proaktiv umverteilen
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Nicht zuletzt wegen steigender Preise haben immer mehr Menschen immer weniger Geld am Ende des Monats, der Arbeitslohn reicht nicht immer zum Überleben. Wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen eine Lösung? Die Freiburger Professorin für Christliche Gesellschaftslehre Ursula Nothelle-Wildfeuer glaubt nicht daran, mahnt aber Veränderungen im Wirtschaftssystem an.
Frage: Frau Nothelle-Wildfeuer, woher kommt die Idee eines Bedingungslosen Grundeinkommens?
Nothelle-Wildfeuer: Manche berufen sich schon auf die Bergpredigt im Matthäusevangelium: "Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen oder trinken sollt, noch um euren Leib, was ihr anziehen sollt!" (Mt 6,25) Darin sehen sie einen Beleg für die berechtigte Forderung nach einer allgemeinen Versorgung für den täglichen Lebensunterhalt. Später schlägt Thomas Morus in seiner "Utopia" von 1516 vor, den Menschen einen Lebensunterhalt zu bezahlen, um Diebstahl vorzubeugen. Er und andere Denker nach ihm verbinden diese Forderung nach Versorgung allerdings mit der Frage der Arbeitsbereitschaft; zudem sprechen wir hier natürlich von wirtschaftlichen Grundvoraussetzungen, die mit unseren heutigen marktwirtschaftlichen Strukturen nur schwer zu vergleichen sind.
Im 20. Jahrhundert haben zum Beispiel der österreichische Theologe Herwig Büchele und die Sozialwissenschaftlerin Lieselotte Wohlgenannt aus sozialethisch-theologischen Motiven ein Grundeinkommens-System entwickelt, man beruft sich auch gern auf den US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman und seine Idee der negativen Einkommenssteuer. Zuletzt haben etwa der ehemalige thüringische Ministerpräsident Dieter Althaus oder der Unternehmer Götz Werner Modelle und Rechnungen dazu aufgestellt.
Frage: Auch Papst Franziskus hat ein Grundeinkommen gefordert – zu Recht?
Nothelle-Wildfeuer: Der Papst fordert nicht die Umsetzung eines bestimmten Modells eines Bedingungslosen Grundeinkommens, sondern es geht ihm darum, dass Menschen durch ihre Arbeit in die Lage versetzt werden, sich hinsichtlich der existentiellen Bedürfnisse ihres Lebens zu versorgen. Das fordert er völlig zu Recht. Dass Menschen nicht am Rand oder jenseits des Existenzminimums leben sollen, ist ein zentrales Anliegen für Christinnen und Christen, aber auch darüber hinaus. In westlichen Gesellschaften regelt so etwas der Sozialstaat. Doch der Papst richtet seinen Blick auf die Leidenden weltweit und will ihre Situation strukturell verbessern.
Frage: In der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts reicht der Lohn der Arbeit immer häufiger nicht mehr zum Überleben, auf der anderen Seite konstatierte Hannah Arendt: Der Arbeitsgesellschaft geht die Arbeit aus. Hat sich das Konzept der Arbeit als Quelle von Sinn und Entfaltung im Leben überlebt?
Nothelle-Wildfeuer: Der momentane Fachkräfte- und Arbeitskräftemangel widerspricht der Annahme von Hannah Arendt schon einmal. Auch sonst sehe ich nicht, dass sich die Arbeitsgesellschaft überlebt hat. Geändert hat sich sicher die Akzentuierung hin zu einer durchaus problematischen Bevorzugung akademischer Bildung und einer Zurücksetzung von handwerklicher Arbeit in der Wertschätzung der Gesellschaft. Das macht deutlich: Die Arbeitsgesellschaft entwickelt sich immer weiter, die Verhältnisse müssen immer wieder neu ausgehandelt werden. Die Debatten um die Folgen der Digitalisierung etwa zeigen, dass Arbeit einen wesentlichen Ort menschlicher Selbstverwirklichung darstellt. Sie ist hoffentlich nicht der einzige Bereich, wo das passiert, aber ein zentraler. Die Arbeitsgesellschaft ist nie fertig oder perfekt, aber alle Weiterentwicklung und Reflexion kommen immer wieder zu dem Grundsatz zurück, dass Menschen an diesen Arbeitsprozessen teilhaben wollen.
Frage: Schon Martin Luther spricht vom Beruf, also einer Art Berufung zur Arbeit, die auch die Arbeit für und in der Gesellschaft einschließt. Wäre es da nicht sinnvoll, etwa durch ein bedingungsloses Grundeinkommen den Zwang zum Geldverdienen auszusetzen und so auch die Hinwendung etwa zu schlechter bezahlen handwerklichen oder sozialen Berufen leichter zu machen?
Nothelle-Wildfeuer: Das könnte man so machen. Nur - wie soll das finanziert und umgesetzt werden? Es gibt andere Wege, um bislang unterbezahlte Bereiche zu stärken, ohne den radikalen Systembruch. Wir müssen bezüglich der unterbezahlten Bereiche dringend etwas tun, wie etwa in der Hochphase der Corona-Pandemie für den Pflegebereich deutlich wurde. Aber ich glaube nicht, dass die Notwendigkeit der Einkommensgenerierung durch Arbeit diese immer in die Nähe von Zwangsarbeit rückt. Natürlich gibt es Situationen, wo die Arbeit für die Menschen, die sie tun müssen, zu Zwang und Druck führt. Aber prinzipiell ist es nicht so, dass alle Menschen ihre Arbeit als einen solchen Zwang empfinden. Die erste Verantwortung für das eigene Leben liegt bei jedem und jeder selbst, das sagt auch die christliche Sozialethik mit ihrem Subsidiaritätsprinzip. Der Staat soll in Notsituationen helfen – und nicht proaktiv umverteilen.
Frage: Wie wäre Ihr Konzept?
Nothelle-Wildfeuer: Unser Sozialstaat ist ein prinzipiell verteidigungswürdiges Konstrukt, das zwischen freier Betätigung am Markt und gerechter Versorgung vermittelt. Angesichts immer neu aufkommender Probleme gilt es, dieses System weiterzuentwickeln. Die Weiterarbeit am Sozialstaat ist deutlich lohnender als ein völliger Systemwechsel zum Bedingungslosen Grundeinkommen. Das zeigt allein ein Blick auf den individuellen Förder- und Unterstützungsbedarf, der durch den Sozialstaat abgedeckt wird. Diese und ähnliche Komponenten des Leistungsspektrums würden beim Bedingungslosen Grundeinkommen entfallen. Es würden Menschen mit speziellen Notsituationen und Bedarfen mit einem Betrag, der wohl nicht mehr als das Existenzminimum sichern würde, allein gelassen.
Mein Modell wäre eine Weiterentwicklung des Sozialstaats in einem fortdauernden Aushandlungsprozess. Dabei muss immer wieder im Zentrum stehen, für die Menschen am Rand bessere Lebensbedingungen zu schaffen.
Frage: Nicht zuletzt durch die Hartz-Reformen und neoliberale Initiativen Anfang der 2000er Jahre sind die Sanktionsmöglichkeiten bei Arbeitslosigkeit derart hoch, dass viele Menschen unfassbare Angst vor der Arbeitslosigkeit haben und sich deswegen auch in schlechtestbezahlte Scheinselbstständigkeiten zwängen lassen. Man muss kein linker Ideologe sein, um zu sehen, dass beispielsweise Paketboten oder Schlachter in Großkonzernen über die Maßen ausgebeutet werden. Ein solches System funktioniert doch nicht so, wie Sie es gerade beschrieben haben.
Nothelle-Wildfeuer: Solchen Auswüchsen muss ein Riegel vorgeschoben werden, keine Frage. Doch das sind Missstände im System, die klar zu benennen sind – und keine Gründe, das System als Ganzes abzuschaffen. Solche Probleme würden mit einem Grundeinkommen auch nicht besser. Natürlich würden Menschen solche Scheinselbstständigkeiten wie etwa bei Paketboten mit Recht noch weniger akzeptieren müssen, aber es müsste dennoch Paketboten geben. Wer würde diese Arbeit denn dann machen? Diese Dienstleistungen brauchen wir in unserer Gesellschaft. Da müssen wir eher dafür sorgen, dass diese Berufe besser abgesichert und ausgestattet werden.
Frage: Das wäre dann wieder ein großer Eingriff des Staates – und der Mindestlohn hat da schonmal nicht funktioniert.
Nothelle-Wildfeuer: Das würde ich so pauschal nicht sagen. Der Mindestlohn hat an vielen Stellen funktioniert, greift aber bei Scheinselbstständigkeiten nicht. Das heißt, dort muss zielgenau eingegriffen werden – im Sinne der Setzung der richtigen Rahmenordnung. Damit kann gewissen problematischen Entwicklungen ein Riegel vorgeschoben werden. Natürlich haben wir schon einen Wald von Bestimmungen, doch in unserer hochkomplexen Gesellschaft lässt sich nicht alles durch einen simplen Schnitt erledigen.
Frage: Wenn niemand mehr mit Bauchschmerzen ins Bett gehen muss, weil er oder sie sich Gedanken über den Lebensunterhalt machen muss – kann eine solche Grundhaltung ein Bauen am Reich Gottes sein?
Nothelle-Wildfeuer: Alles, was wir als Christinnen und Christen auf dieser Erde tun, kann ein Schattenbild des neuen Himmels und der neuen Erde sein – aber auch wirklich nur ein Schattenbild. Das Reich Gottes können wir nicht bauen, es ist ein Geschenk. Das bedeutet aber nicht, die Hände in den Schoß zu legen und darauf zu warten, was von oben kommt: Aufgrund der Verheißung des Reiches Gottes und der Hoffnung auf dessen Kommen sollten wir daran arbeiten, auf dem Weg dorthin Spuren dieser Hoffnung auf dieser Erde zu hinterlassen. Dazu gehören die Bemühungen um eine gerechtere Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Weder das bedingungslose Grundeinkommen noch die soziale Marktwirtschaft sind das Nonplusultra im Blick auf das Reich Gottes. Aber Schritte im Sinne eines mehr an Gerechtigkeit, und seien sie auch noch so klein, sind Schritte, mit denen wir uns auf das Reiches Gottes zu bewegen.
Themenwoche: Armutskrise in Deutschland: "Schau hin!"
Armut – fünf Buchstaben, die wohl jedem Angst machen und die in Zeiten von Energiekrise und allgemeiner Inflation bedrohlich an Bedeutung gewonnen haben. Die Preissteigerungen der vergangenen Monate treffen viele Menschen in Deutschland; die immer länger werdenden Schlangen vor den "Tafeln" sind ein alarmierendes Anzeichen dafür. Mit einer Themenwoche blickt katholisch.de vom 3. bis 9. Oktober in Artikeln und Videos aus christlicher Sicht auf das Thema.