Katholisch, authentisch und grün: Winfried Kretschmann wird 75
Auch nach einem Dutzend Jahren als Regierungschef ist Winfried Kretschmann Kult: Man muss im Interview der links-alternativen "tageszeitung" erst mal auf die Idee kommen, die jüdische Philosophin Hannah Arendt und den Kirchenvater Augustinus zu zitieren – um trotzdem oder gerade deswegen ernst genommen zu werden. Das gelingt vor allem, weil Kretschmann in seinem Auftreten und seinen Ansprachen authentisch wirkt. Am Mittwoch wird Deutschlands zweitdienstältester Ministerpräsident 75.
2011 war es für die SPD eine Schmach und fünf Jahre später für die CDU eine Katastrophe, dass die Grünen mehr Stimmen hatten als sie selbst. Was zunächst der Atomkatastrophe von Fukushima und einem unbestimmten Willen zum Wechseln geschuldet schien, ist im Südwesten inzwischen etabliert: Die Grünen sind Volkspartei – abhängig und geprägt von einer Person. Es wirkte einfallslos, war aber erfolgversprechend, als die Kernbotschaft auf Wahlplakaten "Grün wählen für Kretschmann" lautete. Garniert war der Satz mit fünf Varianten wie "Regieren ist eine Stilfrage", "Verantwortung und Augenmaß" oder "Dem Land verpflichtet". Immer allein im Bild: Kretschmann.
Anzug, Hemd und Lederschuhe
Der Mann mit dem markanten Bürstenhaarschnitt steht nicht für große Gesten und Reden. Der Mitbegründer der Grünen will nüchtern und sachlich überzeugen. Glaubwürdigkeit und Integrität bescheinigen ihm auch politische Gegner. Und zum Bürgerschreck hat er nie getaugt. Keine Latzhose, keine Jesuslatschen – Kretschmann entspricht nicht dem Öko-Klischee. Fast immer tritt der gelernte Lehrer für Biologie, Chemie und Ethik im Anzug mit Lederschuhen auf, trägt weißes Hemd und grüne Krawatte.
Auch in anderen Dingen ist Kretschmann strukturkonservativ – und hatte es deshalb in der eigenen Partei nicht immer leicht. Doch sein Erfolg macht ihn fast unangreifbar. Die Wahl 2021 gewann seine Partei mit 32,6 Prozent und holte 58 von 70 Direktmandaten. Als Kretschmann sich für ein Bündnis mit der CDU und gegen eine Wiederauflage der Zusammenarbeit mit der SPD entschied, mussten viele Grüne heftig schlucken – und hielten den Mund.
Sein Land regiert Kretschmann präsidial. Er lässt, wie er es selbst sagt, die Minister an der langen Leine laufen und mischt sich selten und ungern ins Klein-Klein der Tagespolitik ein. Das scheint zu funktionieren. Die allermeisten zwischen Bodensee und Odenwald zeigen sich in Umfragen mit seinem Regierungsstil zufrieden. Kretschmann beschreibt sich selbst als "Lobbyist einer Wirtschaft, die es hinbekommt, Wohlstand und wirtschaftlichen Erfolg vom Naturverbrauch und der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen zu entkoppeln".
Kretschmann wuchs in Spaichingen auf, "in einem liberalen, katholischen Elternhaus, in dem frei gedacht und gestritten und zugleich der ganze Reichtum des Kirchenjahres gelebt wurde". Diese Prägung zeigt sich auch in den kirchlichen Ehrenämtern, die er hatte oder hat: im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), im Diözesanrat der Erzdiözese Freiburg, im Kuratorium der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, im Verein der Freunde der Erzabtei Sankt Martin zu Beuron und im Kirchenchor seines Heimatdorfs Laiz an der Donau.
Lange Liste an Ehrenämtern
Trotz allem: Kretschmann will nicht der Vorzeigekatholik sein, als der er oft (miss)verstanden wird; er sieht sich eher als spirituell und intellektuell Suchenden. Das Reformbemühen seiner Kirche nimmt er wahr, aber auch dort mag er sich nicht mehr im Klein-Klein verlieren. Für ihn ist klar, dass die Beschlüsse des katholischen Projekts Synodaler Weg umgesetzt werden sollten, aber er weiß auch, wo die Widerstände sind und dass in seiner Kirche "nun einmal die Hierarchie die Lehre bestimmt".
Für drei Jahre ist der verheiratete Vater dreier erwachsener Kinder noch gewählt, aber die Debatte um seine Nachfolge ist eröffnet. Auch wenn Kretschmann betont, dass er bis zum Schluss im Amt bleiben will und Pläne hat: "Ich habe noch einiges vor." Im April verabschiedete der Landtag ein Gesetz, nach dem Oberbürgermeister früher ins Amt kommen und länger bleiben können als bislang. Für Kretschmann ergibt das Sinn: "Man kann auch mit 75 noch Ministerpräsident sein." Spannender ist für viele die Frage, wie der Regierungschef heißt, wenn Kretschmann 78 wird.