Der größte Friedhof der Welt
Zwei Tonnen Haare. Nur eine Glasscheibe trennt die Besucher davon. Haarbüschel von Menschen, die in Auschwitz von den Nazis ermordet worden sind. Sie sind beleuchtet, ansonsten ist der Raum dunkel. "Das war der emotionalste Moment, als ich die Haarberge gesehen habe", sagt Ljuba Naminova. "Ich habe plötzlich ein Ekelgefühl gespürt, fast schon körperlich." Auch Elfi Heinke ist von der Situation überwältigt. "Ich konnte nicht realisieren, dass es wirklich die Haare der Opfer sind", sagt sie später. Die beiden jungen Frauen gehören zu einer Gruppe von 20 jungen Journalistinnen und Journalisten aus Deutschland, Österreich, Russland und der Ukraine, die sechs Tage in Oświęcim verbringen – nur ein paar hundert Meter Luftlinie entfernt vom ehemaligen Konzentrationslager, von dem Ort, an dem sich das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichten ereignete.
Das ehemalige Lager ist heute eine Gedenkstätte. Wie können junge Menschen diesem Ort begegnen? Die meisten Teilnehmer haben Großeltern, die den zweiten Weltkrieg erlebt haben. Elfi Heinkes Großmutter ist im Alter von neun Jahren aus dem Banat (dem Teil, der heute zu Rumänien gehört) geflohen. Ljuba Naminovas Großeltern lebten während des Krieges in Sibirien. Eine ihrer Großmütter wurde aus der Wolga-Republik dorthin deportiert. Für beide ist das Geschehen von damals nicht Geschichte, sondern durch den Austausch mit ihren Verwandten lebendig.
Diese Form der Auseinandersetzung geht nach und nach verloren. In den Familien vieler Jugendlicher gibt es niemanden mehr, der die Nazi-Zeit erlebt hat und mit ihnen darüber sprechen kann. Den Holocaust kennen sie nur aus dem Geschichtsunterricht. Es mache einen Unterschied, ob Enkel oder bereits Urenkel der betroffenen Generation sich mit dem Thema beschäftigten, sagt Paweł Sawicki, Pressesprecher der Gedenkstätte Auschwitz. Das ganze Jahr über besichtigen Schulklassen das ehemalige Konzentrationslager. Nicht immer begegnen sie dem Ort in einer Weise, die ihm gerecht zu werden scheint. Einzelne machen Selfies vor den Baracken oder lassen sich im Brennofen eines Krematoriums fotografieren. "70 Jahre – das ist für viele Jugendliche so weit weg wie die Geschichte des Mittelalters", sagt Andrzej Kacorzyk, stellvertretender Direktor der Gedenkstätte.
"Hierher kommt man nicht zum Leben, sondern zum Sterben"
Doch es gibt auch junge Menschen, die sich ernsthaft mit dem Thema auseinander setzen wollen. Claudia Spengler hat sich bewusst dafür entschieden, ihren Freiwilligendienst im Zentrum für Dialog und Gebet in Oświęcim zu leisten. Seit sechs Monaten ist die 18-Jährige dort. Besonders beeindruckt ist Spengler vom Austausch mit den Zeitzeugen: "Das ist ein wertvolles Geschenk." Für sie sind es die Einzelschicksale der Überlebenden, die das Thema lebendig werden lassen.
Zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers durch die Rote Armee am 27. Januar kommen neben Politikern und Prominenten aus aller Welt auch etwa 300 Überlebende zu der Gedenkfeier nach Birkenau. Einer von ihnen ist Leon Weintraub. Seine Familie wurde 1939 in das Ghetto Litzmannstadt zwangsumgesiedelt. Im August 1944 wurde Weintraub mit seiner Mutter und drei seiner Schwestern nach Auschwitz deportiert. Als er dort ankam, nahm ihm ein anderer KZ-Häftling seinen Rucksack ab. "Darin sind meine Briefmarken", sagte der heute 89-Jährige. "Hierher kommt man nicht zum Leben, sondern zum Sterben", erwiderte ihm der andere.
Doch Leon Weintraub ist nicht gestorben. Nach einigen Wochen gelang es ihm, aus Auschwitz zu entkommen. Sein Leiden hatte aber noch kein Ende. Er kam in das Arbeitslager Dörnhau. Von dort wurde er auf den Todesmarsch nach Flossenbürg geschickt, dann in verschiedene Arbeitslager. Nach dem Krieg studierte er Medizin in Göttingen, heiratete und arbeitete als Frauenarzt zunächst in Polen, später in Schweden. Heute will er als Zeitzeuge seine Erlebnisse mit jungen Menschen teilen. Er hofft durch seine Erzählungen, bei den jungen Menschen bildlich gesprochen "die Speichertaste am Rechner zu drücken". "Wenn meine persönliche Erscheinung bei ihnen am Computer die Save-Taste drücken kann, dann habe ich meine Aufgabe erfüllt", sagt Weintraub.
Wie kann Erinnerung ohne Zeitzeugen funktionieren?
Wie wird das sein, wenn es in zehn oder fünfzehn Jahren keine Zeitzeugen mehr geben wird? Wie funktioniert Erinnerungskultur, wenn es niemanden gibt, der das zu Erinnernde erlebt hat? Ist Auschwitz dann "Geschichte"? Darüber macht sich auch Pressesprecher Paweł Sawicki Gedanken. Man müsse bald vermehrt auf die Aufzeichnungen der Zeitzeugen zurückgreifen, sagt er. Im Archiv der Gedenkstätte gebe es 3.300 Zeugnisse von Überlebenden aus Auschwitz.
Der Ort spricht für sich. 170 Hektar groß ist das Vernichtungslager Birkenau. 16 Kilometer Stacheldrahtzaun spannen sich um diese Maschinerie des Todes. Dort endeten die Schienen der Reichsbahn. Sie führten in den Tod. Auf der Rampe hat die SS mit einer Handbewegung entschieden, wer leben und wer sterben durfte. Daumen links: Gaskammer, Daumen rechts: Leben, aber Schwerstarbeit.
Der Himmel hängt grau und schwer über den Baracken. In jeder von ihnen mussten etwa 500 Menschen auf einfachen Holzpritschen schlafen, ohne Decken oder Stroh, die Schwachen und Kranken gar auf dem nackten Steinboden. Ein Schleier aus Nebel liegt über der Treppe zur zerstörten Gaskammer. Wer dort hinunter ging, kam nie wieder zurück. Schnee bedeckt den Erdboden, in dem die Asche abertausender Menschen liegt. Der größte Friedhof der Welt. Ohne Grab.
Von Claudia Schwarz