Haben wir vor lauter Flucht ins Ferne den Nächsten noch im Blick?

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In diesen schlechten Zeiten sind mentale Fluchtreflexe sehr beliebt. Flucht aus einer durcheinandergeratenen Umgebung, Flucht aus einer missratenen Kirche, Flucht vor den "Nächsten" um die Ecke. Lieber in die Ferne schweifen, wenn das Schlechte liegt so nah!
Und dafür haben wir ein Wort, ein höchstphilosophisch aufgeladenes gar: die "Fernstenliebe", so Friedrich Nietzsche, diene im Widerspruch zum christlichen Ideal der Nächstenliebe ("nur eine Erscheinungsweise schlechter Selbstliebe und Charakterschwäche") der Selbstvervollkommnung aus dem Geist der Stärke und Selbstbeherrschung. Der Philosoph Nicolai Hartmann würdigt den Begriff als "neuen Wert". Man könne die Fernstenliebe als frühes Konzept der Umweltethik, als Beschreibung des Nachhaltigkeitsprinzips betrachten. Ist es also nachhaltig, lieber in der Ferne "nahe" zu sein, statt sich dem Nächsten vor der Haustür anzunehmen, weil das nach "schlechter Selbstliebe und Charakterschwäche" klingt? Ist Umweltethik etwas hehreres als Sozialethik?
Wie gehen wir mit unseren "Nächsten" um? Menschen, die Anrufe in einem Center für Hausnotrufe entgegennehmen, berichten: "Das Anrufaufkommen wird immer größer. 2001, im ersten Jahr, waren es 249.592 Anrufe. Zehn Jahre später schon gut 900.000. Und inzwischen sind wir bei fast zwei Millionen Anrufen im Jahr." – "Die meisten Anrufe sind keine Notrufe. Die wollen reden. Vor allem die, die allein leben. Sie drücken, um eine Stimme zu hören." – "Manche erzählen, dass ihre Kinder vier Wochen nicht zu Besuch waren. Und im System sehe ich dann, dass die Kinder sogar die gleiche Postleitzahl haben."
Haben wir vor lauter Umweltethik und Nachhaltigkeit die Nächstenliebe organisiert wie einen Pizza-Bringdienst auf Knopfdruck: "Ich hätte gern die Pizza 'Zuwendung' mit bisschen Empathie und Liebe drauf"? Haben wir den "Nächsten" aus unserem Blick genommen, weil wir uns in der gleichgesinnten Blase von "Selbstvervollkommnung aus dem Geist der Stärke und Selbstbeherrschung" so gut fühlen?
"Nächstenliebe" ist harte Arbeit an einem Zeugnis, dass Christsein Nähe bedeutet. Nähe ist die Rettung aus dem Schlechten, nicht mentale Flucht in das Ferne!
Der Autor
Albrecht von Croy ist Mitherausgeber von "theo – das katholische Magazin" und Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK).
Hinweis
Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der jeweiligen Autorin bzw. des Autors wider.