Religionssoziologe: Kleine, sektenähnliche Kirche kann kein Ziel sein
Mit Blick auf die Austrittszahlen für die kommenden Jahre zeichnet der Religionssoziologe Gert Pickel ein düsteres Bild: "Ich gehe davon aus, dass wir die Austrittszahlen ungefähr in dieser Höhe bleiben werden, und fürchte im Hinblick auf die katholische Kirche fast, dass wir uns sogar noch höher bewegen werden." Im katholisch.de-Interview spricht er darüber, was die Kirche gegen die Austrittszahlen unternehmen könnte – und warum eine kleinere Kirche nicht das Ziel sein sollte.
Frage: Herr Pickel, im vergangenen Jahr sind über eine halbe Million Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten. Wie blicken Sie auf diese Zahl?
Pickel: Diese Zahl ist auf der einen Seite überraschend – auf der anderen Seite aber auch nicht. Wir können schon seit längerer Zeit Säkularisierungsprozesse beobachten, zu denen jetzt die Unzufriedenheit mit dem Umgang mit Missbrauchsfällen gerade in der katholischen Kirche kommt. Dass der Schwung aber so schnell nach oben geht, ist durchaus überraschend.
Frage: Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe dafür?
Pickel: Häufig ist es so, dass bei Kirchenaustritten Protestanten und Katholiken in einem Boot sitzen. Das ist dieses Mal anders: Wir haben dieses Mal einen deutlichen Überhang an Austritten aus der katholischen Kirche. Da kann man stark vermuten, dass der Umgang mit dem Missbrauchsskandal eine Rolle spielt. Ich vermute aber auch, dass dies eine Reaktion darauf ist, dass der Synodale Weg so stark aus Rom blockiert wird. Diese Blockade hat dazu geführt, dass sich gerade auch engagierte Katholikinnen und Katholiken gefragt haben, ob sich ihr Engagement dort und in ihrer Kirche überhaupt noch lohnt. Der SWR hat im vergangenen Jahr eine kleine Studie gemacht, an der ich beratend beteiligt war. Dabei wurden in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg in 20 Standesämtern Ausgetretene befragt. Eine Besonderheit war, dass man zum ersten Mal feststellen kann, dass auch Menschen aus der Kirche austreten, die religiös sind und es nicht mehr in der Kirche aushalten. Das ist für die katholische Kirche keine besonders gute Botschaft, und sie drückt sich jetzt auch in den Austrittszahlen aus.
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Frage: Der Wiener Kardinal Christoph Schönborn sagte Anfang der Woche mit Blick auf Austrittszahlen in Österreich: "Wir werden durch keine Maßnahmen den Katholikenschwund aufhalten können – auch nicht durch irgendwelche angeblichen, unbedingt notwendigen Reformen." Stimmt das aus Ihrer Sicht?
Pickel: Das ist so nicht ganz richtig. Natürlich finden Säkularisierungsprozesse unabhängig von irgendwelchen Maßnahmen in der Kirche statt. Das können wir seit den späten 1960er Jahren in Deutschland beobachten. Was wir aber in den vergangenen Jahren beobachten, ist eine deutliche Beschleunigung – gerade in Hinblick auf die Austritte aus der katholischen Kirche. Und das hat schon mit Entscheidungen der Kirche zu tun. Wenn wir jetzt den Umbruch erleben, dass sogar religiöse Personen sagen, dass sie in der katholischen Kirche nicht mehr am richtigen Platz sind, dann erreicht das eine neue Stufe. Das bedeutet nämlich, dass sie jetzt auch von den Mitgliedern verliert, die die Substanz der katholischen Kirche waren. Also nicht nur Menschen, die vielleicht zwei Mal im Jahr in die Kirche gegangen sind, sondern Personen, die zentral waren für das kirchliche Leben. Und das ist tatsächlich ein Unterschied.
Frage: Welche Auswirkungen hat das?
Pickel: Auf der ganz praktischen Ebene bedeutet das, dass Personen, die in den Gemeinden ehrenamtlich mitgewirkt haben, jetzt weniger werden. Seit Jahren sinkt bereits die Zahl der Hauptamtlichen, und wenn jetzt auch die Ehrenamtlichen weniger werden, bedeutet das ein strukturelles Problem für die Kirche von morgen. Es werden auch weniger Menschen, die die katholische Kirche nach außen vertreten haben oder pro bono sprechen. Auch das ist für die Zukunft nicht vorteilhaft. Momentan befinden wir uns bei den Mitgliederverlusten auf einem Pfad, der nicht in Konsistenz, sondern in einer Beschleunigung mündet. Das sollte den Verantwortlichen schon Sorgen machen – außer natürlich, man sagt, dass einem eine kleine Schar von Gläubigen reicht. Aber diese Entwicklungen zu betrachten und zu sagen, man macht nichts, weil man sowieso nichts dagegen tun kann, ist keine besonders gute Strategie.
Frage: Was sollte die Kirche Ihrer Ansicht nach tun, um diesen Austrittswellen etwas entgegenzusetzen?
Pickel: Das ist eine Debatte, die für die katholische Kirche auch immer wieder Rom mit ins Spiel bringt. Man muss sich überlegen, wie eine moderne Kirche aussehen soll. Vielleicht gibt es Formen, die man verändern kann, ohne dass man dadurch die Tiefe des Glaubens gefährdet. Die Frage ist auch, wie man mit gesellschaftlichen Veränderungen umgeht, etwa mit Menschen, die queer sind. Da hat man in der Kirche teilweise große Schwierigkeiten, aber das sind Debatten, die man führen muss. Wenn ich junge Menschen befrage, sagen 70 Prozent, dass die Kirche ein großes Problem mit Gleichstellungsfragen hat. Hier muss man sich genau wie bei anderen Fragen der Moderne öffnen.
Frage: Und weiter?
Pickel: Das zweite ist, dass man schaut, was wichtig für die Kirche ist. Die Kirche bedeutet ja eigentlich Gemeinschaft. Und wir sehen, dass häufig Personen, die gar nicht religiös sind, in der Kirche bleiben, weil sie die Gemeinschaft und die Gruppen schätzen, in denen sie selbst eingebunden sind. Das kann ein Bibelkreis sein, das kann aber genauso gut eine "Gruppe gegen rechts" sein oder ein Chor. Wenn wir mittlerweile auf die Kirchenmitglieder schauen, stellen wir fest, dass ein Drittel von ihnen sagt, dass sie nicht religiös sind, aber trotzdem Mitglied. Diese Menschen, die engagiert, aber gar nicht so stark gläubig sind, hat man selten vor Augen, aber auch sie sind für den religiösen Rahmen und in den Kirchen wichtig.
Frage: Reformen lassen sich in der katholischen Kirche allerdings nicht so leicht umsetzen. Sie haben den Synodalen Weg und die Interventionen Roms angesprochen …
Pickel: Das ist genau das Problem, man kommt in eine Zwickmühle. Manche Katholikinnen und Katholiken hatten sicher die Hoffnung, dass sich durch den Synodalen Weg etwas ändern würde und merken jetzt, dass das nur eine Scheinhoffnung war, weil aus Rom ein "Nein" kommt. Das frustriert die Menschen – und wenn man frustriert ist, reagiert man darauf. Wenn schon der Papst sagt: "Wir haben eine gute evangelische Kirche, wir brauchen nicht zwei von ihnen", dann merkt man daran durchaus die Angst, dass sich bestimmte progressive Gruppen von der jetzigen katholischen Kirche abspalten. Ich könnte mir vorstellen, dass das irgendwann mal eine Rolle spielen könnte. Weil man mit einzelnen Normen nicht mehr zurechtkommt, die nicht gegenwartsgerecht sind, aber doch irgendwie katholisch ist. Momentan sehe ich das aber nicht.
Frage: In der evangelischen Kirche sind viele Dinge umgesetzt, die sich reformorientierte Katholiken wünschen. Aber trotzdem kämpft auch die evangelische Kirche mit immer höheren Austrittszahlen.
Pickel: Dazu muss man sagen, dass es auch in der evangelischen Kirche einige Problemlagen gibt. Die Evangelische Kirche hat zwar versucht, sich zu modernisieren, aber gleichzeitig ist sie durchaus relativ stark hierarchisiert. Auch in der evangelischen Kirche argumentiert man stark gottesdienst- und pfarrerzentriert, verliert aber teilweise gleichzeitig die sozialen engagierten Gruppen in den Gemeinden aus dem Blick. Man hat nicht vor Augen, dass sie sich auch woanders, also außerhalb der Kirche, organisieren können. Da gibt es durchaus einiges an Reformbedarf. Man muss aber auch sagen, dass wir einen Modernisierungsprozess haben, der mit Religion nicht gut zu harmonieren scheint. Gegen den kann man relativ wenig machen. Man kann aber in diesem Rahmen schon etwas dagegen tun, dass einem die Mitglieder nicht massenweise davonlaufen. Und da ist auch der Blick auf die Gemeinschaft und den Gemeinschaftsgedanken in Gemeinden wichtig.
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Frage: Werfen wir einen Blick in die Zukunft: Welche Entwicklungen erwarten Sie mit Blick auf die Austrittszahlen in den kommen Jahren?
Pickel: Ich gehe davon aus, dass wir die Austrittszahlen ungefähr in dieser Höhe bleiben werden, und fürchte im Hinblick auf die katholische Kirche fast, dass wir uns sogar noch höher bewegen werden. Je nach Situation könnte es auch wieder etwas ruhiger werden. Aber die langfristige Perspektive ist eine weitere deutliche Abnahme der Mitglieder. Ich habe vorhin darüber gesprochen, was man dagegen unternehmen kann. Das bedeutet zwar nicht, dass der Mitgliederschwund deswegen aufhören würde. Man kann ihn aber reduzieren, man kann vielleicht Menschen, die engagiert sind, halten. Darüber hinaus wird es aber nicht gehen. Die Religionssoziologie sagt, dass wir trotz Säkularisierung ein Kern von Gläubigen übrigbleiben wird, nur wie groß dieser sein wird, lässt sich noch nicht sagen. Für die Kirchen könnten es insgesamt 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sein. Man wird sich also wohl mit einer Minderheitenrolle auseinandersetzen müssen.
Frage: Einige finden diesen Prozess gar nicht schlecht, weil nur die übrigbleiben, die entschieden Christen bleiben wollen. Kann die Kirche das wirklich wollen?
Pickel: Das ist durchaus möglich. Problem ist, damit ist auch ein Bedeutungsverlust verbunden, mit dem man sich dann doch schwer tun wird. Und mindestens genauso wichtig: Es ist der Auftrag der Kirchen Gläubige zu Gott zu bringen und zu erreichen. Da kann das Ziel nicht eine kleine, sektenähnliche Gruppe sein. Denn das Risiko bei einer solchen Schrumpfung ist, dass dann nur Konservative bis Fundamentalisten übrig bleiben, die langfristig keinen Anschluss mehr an die Gesellschaft halten können.
Frage: Der Kirchenrechtler Thomas Schüller sprach gestern angesichts der hohen Austrittszahlen davon, dass die Kirche "stirbt". Würden Sie das so unterschreiben?
Pickel: Das, was wir als Volkskirche kennen, wird in dieser Form wahrscheinlich sterben. Da kann ich ihm durchaus zustimmen. Das bringt natürlich auch ein Problem mit sich: Ich habe davon gesprochen, dass die Gemeinschaften ein ganz wichtiger Wert sind. Wie will ich die aufrecht erhalten, wenn ich nicht mehr Volkskirche bin? Das wird eine Frage sein, die sich die Kirchen stellen müssen. Darauf kann man nicht so reagieren, dass es nur noch einen Pastor in der Großstadt gibt und alle anderen dorthin fahren müssen. Das wird nicht funktionieren. Man muss schauen, dass man in der Fläche erhalten bleibt, auch wenn man nur noch wenige Personen in diesen Gebieten hat. Das wird die Herausforderung sein, nur wenn dies den Kirchen gelingt, sind sie überlebensfähig – nicht als Volkskirche, aber als eine Gemeinschaft, die nicht wenige Anhänger hat. Ich glaube nicht, dass Religion und Kirche vollständig verschwinden werden. Wir gehen davon aus, dass das immer für eine Gruppe von Bürgern interessant ist Mitglied in einer Kirche zu sein. Aus religiösen Gründen oder aus Gemeinschaftsgründen. Aber dazu müssen die Kirchen natürlich auch etwas dazulernen. Eine Kirche, wie es sie zum Beispiel in den 1950er oder -60er Jahren noch gegeben hat, ist tatsächlich zum Aussterben verdammt.