Assistierter Suizid und Seelsorge: "Die Ohnmacht gemeinsam aushalten"
Am Donnerstag debattierte der Deutsche Bundestag über zwei Gesetzesentwürfe, die Regelungen zum assistierten Suizid treffen wollten. Doch beide erhielten nicht die notwendige Mehrheit. Neben allen ethischen und rechtlichen Fragen in dieser Thematik ergeben sich weitere Herausforderungen. Zum Beispiel: Wie könnte man Menschen, die ihr Leben mit einem assistierten Suizid beenden möchten, seelsorglich begleiten – auch wenn man ihr Vorhaben kirchlicherseits nicht gutheißen kann? Reiner Nieswandt, Leitender Pfarrer der katholischen Krankenhausseelsorge in Wuppertal, hat viel Erfahrung mit der Begleitung sterbender Menschen. Im Interview erzählt er von ihnen und sucht nach Wegen in diesem schwierigen pastoralen Feld.
Frage: Herr Pfarrer Nieswandt, sind Sie schon einmal mit dem Wunsch nach assistiertem Suizid konfrontiert worden?
Nieswandt: Ja, allerdings nicht im Krankenhaus, sondern als ich noch in der Gemeindeseelsorge tätig war. Ein Ehepaar kam damals auf mich zu, bei dem die Frau schon viele Jahre krank war und der Mann sie aufopferungsvoll pflegte. Sie fragten ganz offiziell an, wie die Haltung der Kirche beim Thema Beihilfe zum Suizid sei. Sie wollten meine Position wissen und schrieben auch den damals noch amtierenden Kölner Kardinal Meisner an. Sie haben von ihm eine sehr persönliche und ausführliche Antwort bekommen.
Frage: Wissen Sie noch, was in der Antwort von Kardinal Meisner stand?
Nieswandt: Die Antwort des Kardinals damals war, dass wir keine Verfügungsgewalt über das eigene Leben haben, sprich dass es uns nicht erlaubt ist, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen.
Frage: Und was haben Sie damals gesagt?
Nieswandt: Letztlich war oder ist meine Position ähnlich wie die von Kardinal Meisner damals. Auch wenn ich darum weiß, dass bei einer schweren Krankheit die Versuchung, den letzten Schritt im Leben über die Schwelle zum Tod selbst zu vollziehen, sehr groß ist und übermächtig werden kann. Das möchte ich keineswegs verharmlosen oder bagatellisieren. Schließlich spricht aus so einem Wunsch eine tiefe Verzweiflung.
Frage: Wie ging es mit dem Ehepaar weiter?
Nieswandt: Es ist nicht zum Äußersten gekommen. Ich habe dieses Ehepaar im Rahmen meiner zeitlichen Möglichkeiten gerne betreut. Am Ende war es so, dass ich die Frau eine Stunde, bevor sie gestorben ist, besucht und ihr die Krankensalbung gespendet habe. Längere Zeit später ist ihr Ehemann verstorben, auch ihn habe ich begleitet.
Frage: Was macht es denn mit einem Seelsorger, wenn Menschen mit einem Suizidwunsch an einen herantreten?
Nieswandt: Ich gehöre nicht zu denjenigen, die ganz autoritär-doktrinär zu einem Betroffenen sagen würden, dass das auf gar keinen Fall geht. Ich kann aber auch nicht sagen, dass ich als Seelsorger jedes Mal eine Art Einzelfallentscheidung treffen würde. Ich fühle mich in einer solchen Situation völlig ohnmächtig und damit letztlich auch solidarisch mit dem Menschen, der den Suizidwunsch hat. Als Seelsorger sehe ich meine Aufgabe darin, diese Ohnmachtserfahrung so gut wie möglich gemeinsam auszuhalten, auch mit den Angehörigen und den Pflegekräften. Aber eben auszuhalten. Die Assistenz oder das Dabeisein bei einer suizidalen Handlung könnte ich für mich persönlich nicht verantworten – und das nicht nur, weil ich Priester bin.
Frage: Was würde Sie da besonders abschrecken?
Nieswandt: Betrachten wir die Situation eines Schwerkranken, der sich selbst nicht mehr helfen kann und auch ein Mittel nicht mehr selbst in den Mund führen kann: Letztendlich wäre ich, wenn ich ihm assistiere, ihm den Zugriff zu diesem Mittel möglich mache oder es ihm vielleicht sogar verabreiche, in einer Machtposition gegenüber ihm und der Herr über seine letzten Minuten. Mein Gefühl ist, dass das eine verhängnisvolle psychische Dynamik bei demjenigen auslösen kann, der in einer solchen Situation assistiert: dass das zur Routine wird oder es bei demjenigen, der da so machtvoll tätig ist, eventuell sogar Glücksgefühle auslöst. In so eine Lage möchte ich nicht geraten. Ich habe meinen Dienst als Krankenseelsorger immer als Dienst verstanden und kann ihn nicht in einer Form von Machtausübung ausführen.
Frage: Angenommen, sie wären als dritte Person dabei, sozusagen als Beobachter. Würden Sie dann auch im Moment des Suizids den Raum verlassen?
Nieswandt: Ich hätte wahrscheinlich ein Problem damit, in dem Moment dabei zu sein, in dem das Mittel gegeben wird. Wenn ich hinterher dazu gerufen werde, ist das etwas anderes. Dann ist der Prozess auch unumkehrbar. Ich habe auch kein Problem damit, in der Situation vorher da zu sein und mit den Menschen zu reden. Aber ein Dableiben im Moment des Suizids würde vermutlich als moralische Unterstützung interpretiert – und die kann ich nicht leisten.
Frage: Können Sie den Sterbewunsch eines Menschen, der sich für assistierten Suizid entscheidet, akzeptieren – oder würden Sie versuchen, ihn durch Überzeugungsarbeit daran zu hindern?
Nieswandt: Ich bin noch nicht in einer vergleichbaren Situation gewesen, aber ich habe auch in einer Psychiatrie gearbeitet, in die immer wieder Menschen eigeliefert werden, die einen Suizidversuch hinter sich haben. In der Regel sind das eben Hilfeschreie. Ich weiße aber auch, dass der Gedanke an Suizid, wenn er sich einmal festgesetzt hat und dann vielleicht noch eine Depression dazukommt, eine Dynamik in die Tiefe entwickelt. Und vielleicht auch eine Tiefe erreicht, in der ich diesen Menschen nicht mehr erreichen kann. Aber das gehört dann auch zur eigenen Ohnmachtserfahrung. Letztendlich kann ich als Seelsorger, als Priester und Theologe, nur in einer Haltung der Ohnmacht angemessen mit Menschen, die den Sterbewunsch haben, und deren Angehörigen umgehen. Ich bin nicht der Kirchenlehrer, ich kann da nicht doktrinär auftreten. Ich kann mit diesen Menschen die Situation nur aushalten und ihnen meine persönliche Überzeugung vermitteln, dass wir alle in der barmherzigen Hand Gottes gut aufgehoben sind – im Leben, im Sterben und im Tod.
„Letztendlich kann ich als Seelsorger, als Priester und Theologe, nur in einer Haltung der Ohnmacht angemessen mit Menschen, die den Sterbewunsch haben, und deren Angehörigen umgehen.“
Frage: Wer den Entschluss in sich trägt, sich selbst zu töten, ist laut kirchlicher Lehre indisponiert, die Sakramente zu empfangen, weil er „schwerwiegend unmoralisch handelt und frei darin verharrt“. Wie gehen Sie damit um, falls ein Betroffener um den Empfang der Sakramente bittet?
Nieswandt: Im Krankenhausalltag spende ich sehr häufig, manchmal mehrmals am Tag, die Krankensalbung. Das mache ich sehr gerne, weil ich sie immer als tröstendes Sakrament für die Schwerkranken und Sterbenden genauso wie für deren Angehörige erlebt habe. Rein formell gehört dazu ja auch noch ein Beichtgespräch, falls der Betroffene dazu in der Lage ist. Mit Blick auf den Wunsch nach Suizid oder Beihilfe würde ich wahrscheinlich dem betreffenden Menschen sagen: Die Krankensalbung ist ein Sakrament des Trostes. Aber bei der Beichte kann ich nicht von etwas lossprechen, was in der Zukunft liegt. Letztendlich geht es bei der Krankensalbung genauso wie auch bei beim Sakrament der Versöhnung um die Versöhnung mit sich, mit Gott, mit den Mitmenschen und mit dem eigenen Leben. Das würde ich einem Menschen nicht vorenthalten wollen. Aber ich muss ihm eben auch sagen, es geht nicht für das, was in der Zukunft liegt.
Frage: Sie würden also keinem Betroffenen die Sakramente verweigern?
Nieswandt: Nein. Und ich würde auch keinem die kirchliche Bestattung verweigern. Das kommt für mich überhaupt nicht in Frage, wenn der betreffende Mensch oder dessen Angehörige darum bitten. Ich habe schon Menschen kirchlich beerdigt, die sich das Leben genommen haben, auch solche, die ich gut gekannt habe. Das war für mich nie eine Frage, diesen Dienst zu vollziehen. Aber auch hier gilt: Wenn man das tut, bedeutet das nicht, dass man die Handlung gutheißt.
Frage: Wenn wir den Blick etwas grundsätzlicher ausrichten: Was sagen Debatten wie die zum assistierten Suizid über die Gesellschaft aus?
Nieswandt: Letztendlich geht es dabei um die Auseinandersetzung um das Menschenbild der Moderne, das ich für verkürzt halte: weil es eben den Menschen auf ein autonomes Subjekt reduziert und ihn als Beziehungswesen, auch in seiner transzendenten Dimension, ignoriert. Und daraus entstehen eben solche Haltungen, nach dem Motto: Wenn ich mein Leben nicht mehr leben kann, dann nehme ich mir auch das Recht, diese Welt zu verlassen. Darin sehe ich die eigentliche Problematik bei der Suizidbeihilfe: Was ist mit den Pflegekräften, was ist mit den Angehörigen eines Menschen, wenn es welche gibt? Wie können die mit der Situation zurechtkommen? Man kann als Kirche sicher theologisch-philosophisch gegen diese Entwicklung dagegenhalten, aber das interessiert den Menschen von heute nicht mehr.
Frage: Kann sich die Kirche dabei überhaupt noch Gehör verschaffen?
Nieswandt: Ich denke, das kann eigentlich nur durch eine gute Anderspraxis gelingen: christliche Hospizvereine oder andere Gruppierungen, die sich um Betroffene kümmern und damit verkünden, dass der Mensch für die Kirche eben nicht auf ein autonomes, konsumierendes Subjekt reduziert wird, was nach Nützlichkeitserwägungen leben darf oder sterben soll. So kann sie auch wieder Glaubwürdigkeit erhalten. Die Haltung aus einer doktrinären Autorität heraus nimmt uns keiner mehr ab, weil wir diese Autorität aus bekannten Gründen mehrfach verspielt haben. Nur in dieser glaubwürdigen Anderspraxis sehe ich eine Zukunft.
Hilfe bei Suizidgedanken
Katholisch.de berichtet in der Regel nicht über Selbsttötungen, um Nachahmer zu vermeiden. Sollten Sie selbst oder Menschen in Ihrem Umfeld Suizidgedanken haben, wenden Sie sich unter 0800-1110111 oder 0800-1110222 umgehend an die kostenlose Telefonseelsorge. Dort erhalten Sie Hilfe.