Kirche müsse sich auf ihre Mitte rückbesinnen

Tück: Christus ist der große Abwesende in vielen Reformdiskursen

Veröffentlicht am 10.07.2023 um 14:59 Uhr – Lesedauer: 

Wien ‐ Immer mehr Menschen treten aus der Kirche aus. Für den Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück liegt das neben Missbrauch und Säkularisierung auch an einer Glaubenskrise – doch ohne Kirche fehle der Gesellschaft nicht nur Soziales, ist er überzeugt.

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Der Wiener Theologe Jan-Heiner Tück sieht in Christus den "großen Abwesenden" in vielen Reformdiskursen. "Die sterbenden Kirchen, die wie entlaubte Bäume in der spätmodernen Landschaft stehen, werden aber zu neuem Leben erst finden, wenn sie sich auf ihre Mitte rückbesinnen und die Lektion der Selbstbescheidung lernen", schreibt der Dogmatiker am Sonntag in einem Gastbeitrag für die österreichische Zeitung "Die Presse". "Erst, wo gestutzt wird, können neue Triebe wachsen", so Tück weiter.

Der Anstieg der Kirchenaustritte in Deutschland ist nach Tücks Ansicht vor allem auf die Empörung über sexuellen Missbrauch durch Kleriker und seine Vertuschung durch Bischöfe zurückzuführen. Dazu kämen aber auch Säkularisierungsschübe und eine schon länger schwelende Glaubenskrise: "Die Schere zwischen kirchlicher Verkündigung und heutiger Wissensgesellschaft ist größer geworden. Begriffe wie Schöpfung, Sünde, Gnade oder Erlösung haben ihre orientierende Kraft eingebüßt, obwohl die Herzen leer und die Sehnsucht nach Sinn groß ist." Viele Menschen hätten sich "in einem Rahmen der Immanenz eingerichtet und Leben, als ob es Gott nicht gebe". Dazu kämen finanzielle Gründe: "Warum soll man, wenn das Leben teurer wird, noch Kirchensteuer zahlen und Entschädigungssummen mitbegleichen, für die man keine Verantwortung trägt?"

Der Theologe bezweifelt, dass zivilgesellschaftliche Akteure auffangen können, was durch die "Kirchenschmelze" an diakonischen, kulturellen und lebensorientierenden Impulsen verloren geht. Er hält es aber auch für falsch, die Kirche lediglich auf ihren gesellschaftlichen Nutzen zu reduzieren: "Indem sie das Evangelium verkündet und das Geheimnis von Kreuz und Auferstehung feiert, bleibt sie sensibel für die Leidenden und öffnet einen Hoffnungshorizont, der unser Leben überragt." Die Präsenz der Kirche bleibe wichtig, da sie ihr Eintreten für Schwache einem "mitleidlosen Umgang mit Modernisierungsverlierern" entgegenstelle: "Dem verbreiteten Bezichtigungsfuror, andere auf ihre Fehler zu fixieren, begegnet sie durch eine Kultur der Vergebung”, so Tück. "Die Humanität ist bedroht, wo Gnade fehlt und Menschen auf ihre Leistungen reduziert werden. Die soziale Temperatur in der Gesellschaft könnte ohne die Kirche kälter werden." (fxn)