90 Jahre Reichskonkordat: Ein ewig gültiger "Teufelspakt"?
Als am Mittag des 20. Juli 1933, einem heißen römischen Sommertag, die Glocken des Petersdoms über der Vatikanstadt läuteten, vollzog sich im Kongregationssaal des Päpstlichen Staatssekretariats ein feierlicher Akt: Kardinalsstaatsekretär Eugenio Pacelli (der spätere Papst Pius XII.) und Vizekanzler Franz von Papen unterzeichneten nach kurzer Verhandlung einen Staatskirchenvertrag, der fortan das Verhältnis zwischen Nazi-Deutschland und dem Heiligen Stuhl regeln sollte. Der Vertrag war schon seinerzeit umstritten und galt vielen als "Teufelspakt" – und doch besteht er bis heute.
Es gehört seit jeher zu den Besonderheiten des deutschen Staatskirchenrechts nicht nur in Verfassungen und Gesetzen, sondern auch durch Verträge das Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften zu regeln. Im Gegensatz zu Trennungsmodellen wie in den USA oder Frankreich oder auch zu Staatskirchen wie in Großbritannien und Dänemark hat sich hierzulande ein vertragsrechtliches Kooperationsmodell entwickelt. Mit der katholischen Kirche wurden während der "Weimarer Konkordatsära" zunächst auf föderaler Ebene Verträge ausgehandelt, so geschehen in Bayern 1924, in Preußen 1929 und in Baden 1932. Den Höhepunkt bildete dann das heute vor 90 Jahren geschlossene Reichskonkordat. In seinen 34 Artikeln regelt der Vertrag zahlreiche Fragen der res mixtae, also der Angelegenheiten, die Staat und Kirche gleichermaßen betreffen: Diplomatie, Bistumsgrenzen, Kirchensteuern, Staatsleistungen, Besitz- und Vermögensrechte, Post- und Beichtgeheimnis, Militär- und Anstaltsseelsorge, Bildungs- und Vereinsfragen – diese und noch weitere Sachverhalte werden im Reichskonkordat völkerrechtlich festgesetzt.
Die Kontroversen der Konkordatsgeschichte
Jedoch war die Geschichte des Konkordates lange Zeit weniger eine der Eintracht, wie es dem lateinischen Wortursprung von concordare ("übereinstimmen" oder "harmonieren") entspräche, als vielmehr eine der Zwietracht. Wohl kein Vertrag hat in der Beziehungsgeschichte zwischen deutschem Staat und katholischer Kirche mehr Kontroversen ausgelöst. So stritt sich die historische Zunft Ende der 1970er-Jahre etwa über die Entstehung und Wirkung des Konkordates: Gab es einen Zusammenhang zwischen der Ermächtigung der Nationalsozialisten und der Verhandlung des Vertrags im Frühjahr und Sommer 1933? Hatte der Abschluss die deutschen Katholiken über den wahren Charakter des Nationalsozialismus geblendet und damit einen effektiveren katholischen Widerstand verhindert? Oder hatte der Vertrag diesen durch seine völkerrechtliche Bindungskraft und Schutzfunktion überhaupt erst ermöglicht? Diese besonders mit den Namen Konrad Repgen und Klaus Scholder verbundenen Fragenkomplexe haben zu zahlreichen Forschungsbemühungen in der Konkordatsfrage geführt, die in Summe eines gemein haben: Zwar konnten durch die Aktenöffnungen des Vatikanischen Apostolischen Archivs (VAA) 2003 und jüngst im März 2020 viele dunkle Flecken erhellt und etwa eine Absprache zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich im Vorfeld der NS-Ermächtigung ausgeschlossen werden. Trotz aller empirischer Befunde besteht das Spannungsfeld zwischen kirchenkritischer und kirchenfreundlicher Bewertung des Konkordatsabschlusses aber bis heute weiter, werden Quellen und Argumente doch mal für die eine, mal für die andere Position eingebracht oder schlicht unterschiedlich gewichtet.
Doch nicht nur die Forschung, auch schon die Zeitgenossen stritten sich nach 1945 über die Frage, wie es mit dem Reichskonkordat weitergehen sollte. Gehörte der Vertrag zum wenigen Recht im Unrecht des Nationalsozialismus oder war er, wie etwa der Historiker Karl Dietrich Bracher 1956 befand, mit einer "untragbaren Hypothek" belastet? Für die Kirche und allen voran Pius XII. waren solche Fragen eher rhetorischer Natur. Für den Papst war die Preisgabe "seines" Konkordates undenkbar, galt ihm der Vertrag nach den Erfahrungen mit den Nationalsozialisten, die das Konkordat zwischen 1933 und 1945 in beinahe allen Punkten brachen, doch umso mehr als "Bastion um die Substanz kirchlicher Lebensrechte". Um dem Reichskonkordat nach dem Ende des Krieges zur Fortgeltung zu verhelfen, zeigte sich Pius XII. "zu jedem rechtlichen und diplomatischen Opfer bereit", wie es ein enger Vertrauter, der Jesuit Ivo Zeiger, 1949 festhielt.
In Deutschland war nach 1945 aber nicht die Kirche, sondern waren die Alliierten Behörden die politischen Entscheidungsträger und damit auch die ersten Ansprechpartner in der Konkordatsfrage nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Während der knapp zwei Jahre dauernden Verhandlungen im Alliierten Kontrollrat wurde der Vertrag jedoch weder bestätigt noch delegitimiert. In der Formel der Amerikaner blieb das Konkordat (zumindest in West-Deutschland) "technically binding" und die Militärgouverneure der Zonen waren zuständig für eine potenzielle Umsetzung von Bestimmungen. Ähnlich wie schon der Alliierte Kontrollrat kam dann auch der Parlamentarische Rat im Zuge der Verfassungsberatungen 1948/49 zu keiner endgültigen Entscheidung in der Konkordatsfrage. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes vertagten diese vielmehr mittels einer im Art. 123 Abs. 2 verankerten Formel zur Fortgeltung der Staatsverträge des Deutschen Reiches.
Der Konkordatsprozess in Karlsruhe 1955-1957
Ob das Reichskonkordat weiterhin galt, hatte letztendlich das Bundesverfassungsgericht im Zuge eines Bund-Länder-Streits Mitte der 1950er Jahre zu entscheiden. Tagespolitischer Anlass des Karlsruher Prozesses war das Schulgesetz des Landes Niedersachsen vom 14. September 1954. Dieses erklärte die Gemeinschaftsschule zur Regelschule. Hier sollten die Schülerinnen und Schüler unabhängig ihrer Konfession gemeinsam unterrichtet werden. Für die katholische Kirche war dies theologisch wie programmatisch kaum hinnehmbar, stellte die konfessionelle Prägung des Bildungswesens in den 1950er Jahren doch einen der zentralen "katholischen Identitätsmarker" dar. Zudem war im Reichskonkordat in Art. 23 der Bestand von Bekenntnisschulen, also der konfessionell homogenen Volksschulen, völkerrechtlich gewährleistet worden. Zur "Rettung" der Konfessionsschulen organisierte die Kirche in den 1950er Jahren eine noch nie dagewesene Öffentlichkeitskampagne. Rund 60.000 Demonstranten im Frühjahr 1954 in Hannover, 70.000 im selben Jahr in Lingen, so viele Menschen hat der Kampf um das sogenannte Elternrecht im Zenit auf die Straße gebracht. Zusätzlich blieben zeitweise insgesamt 12.000 Schüler dem Unterricht fern – der bis dahin größte Schulboykott der noch jungen Bonner Republik.
Unter dem Eindruck der effektiv vorgetragenen katholischen Interessenspolitik ließ die Bundesregierung schlussendlich die Gültigkeit des Konkordates vom Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts prüfen. Die Richter in Karlsruhe entschieden sich am 26. März 1957 letztlich für ein von manchen als salomonisch, von anderen als inkonsistent bewertetes Urteil. Sie befanden das Reichskonkordat als legal abgeschlossen und weiterhin in Geltung, doch könne die Bundesregierung die Länder nicht zur Umsetzung der Bildungsbestimmungen zwingen, läge die Hoheit in Kultus- und damit Schulfragen nach dem Grundgesetz doch alleinig bei den Ländern. Ihr Spruch wurde und wird bis heute akzeptiert und kann als wichtigste juristische Zäsur der Konkordatsgeschichte nach 1945 gelten.
Das Ja der Karlsruher Richter zur Fortgeltung des Vertrages trug maßgeblich zur Befriedung der Konkordatskontroverse in den nächsten Jahrzehnten bei und hat die "ruhige Geltung" der restlichen Bestimmungen bis heute begünstigt. Da viele der Bestimmungen mittlerweile aber eine Entsprechung in den Verfassungen oder Landesverträgen haben, besteht für die konkrete Anwendung des Reichskonkordates gegenwärtig kaum noch Bedarf. Der Vertrag besitzt heute überwiegend eine doppelte subsidiäre Bedeutung, einmal als rechtliche Versicherung der Kirche, falls der Staat entscheidende Rechtspositionen etwa durch eine Verfassungsänderung in Frage stellt, und daneben als Normreserve des Staat-Kirche-Verhältnisses, falls nämlich Gegenstände auf Landesebene nicht geregelt sind, dann greifen die Bestimmungen des Reichskonkordates.
Eine Laufzeitbegrenzung kennt der Vertrag nicht. Da es ihm zudem an einer expliziten Kündigungsklausel mangelt, kann juristisch sogar davon ausgegangen werden, dass er "für die Ewigkeit" geschlossen wurde. Juristisch gesehen besteht aktuell aber ohnehin wohl kein Grund für eine Revision, Neuverhandlung oder Auflösung des Konkordates. Auch muss die unbeschriebene "genetische Last" des Vertrages – so nannte es der Staatskirchenrechtler Alexander Hollerbach – seine heutige Geltung nicht mehr beeinträchtigen. Gleichzeitig legen der gegenwärtige Bedeutungswandel der Kirchen und die Fragen der Europäisierung des Staatskirchenrechts es nahe, zumindest über eine Reform des Vertrages nachzudenken. Das Reichskonkordat bietet mit seiner Freundschaftsklausel in Art. 33 Abs. 2 dafür auch den entsprechenden Rechtsrahmen an. Ob die aktuelle Bundesregierung, die mit der Ablösung der Staatsleistungen ein über 100 Jahre schwebendes staatskirchenrechtliches Thema in den Koalitionsvertrag aufgenommen hat, auch die Konkordatsfrage noch einmal aufgreifen wird, ist bisher nicht absehbar. Es ist also wahrscheinlich, dass der Laufzeit des wohl letzten noch gültigen außenpolitischen Vertrags der Nationalsozialisten noch einige Jahre hinzugefügt werden.